Während das Amtsgericht Düren belagert wurde, um Basti zu empfangen, gibt es ein Neues Update aus Neuland.
Die amerikanische Eiche, die ich besetzt halte, wird umringt von einigen weiteren ihrer Art, vor allem aber von vielen jungen Rotbuchen. Den Panoramaausblick auf den Tagebau muss ich bei Tageslicht bisher zum Glück nicht ertragen, denn gestern und heute wird er von einem dichtem, nebelartigen Schleier verhängt. Mit der Dunkelheit tauchen dann plötzlich nach und nach mehr und mehr Lichter durch die wabernde Front, so dass sich das bereits altbekannte Bild einer riesigen maschinell erschaffenen Einöde, deren Grund mir meist verborgen bleibt, sehen kann. Richtung Süden sehe ich viele gefällte Bäume, alles mal Wald, den ich kannte, durch den ich oft gestrichen bin, und gradezu verzaubert war von einer Vielfalt, wie ich sie selten gesehen hab‘. Nicht selten beschlich mich beinahe das Gefühl, durch einen Urwald zu laufen. Noch immer leben so viele Tiere im Tagebauvorfeld, dass mich jedes Mal ein Schauer überkam, wenn ich wieder mal ein Reh oder eine Rotte Wildschweine aufschreckte, und jeder neugebaute Jägerhochstand machte mich so wütend. Was bleibt diesen nichtmenschlichen Lebewesen, die so wenig an der Misere der Welt schuld sind, die sich all das nicht ausgesucht haben, denen keine Wahl gelassen wird? Was ihnen bleibt ist die Flucht oder der Tod durch die Kugel eines Jägers. Entscheiden dürfen nicht sie das. Als ich einmal eine Rotte Wildschweine bloß zwanzig bis dreißig Meter von mir erlebte, fühlte ich erst freudige Aufregung, dann tiefe Bewunderung für ihre Stärke und Wildheit und später dann eine Verantwortung, der ich mich nicht zu entsagen wusste. Diese Wesen könne nicht wählen zwischen kämpfen und nicht-Kämpfen, ihr Leben hängt davon ab, dass diejenigen Lebewesen, die Teil dieser wahnsinnigen Maschinerie, dieses tödlichen Systems sind, und das ist leider jedes menschliche Lebewesen wie Du und ich, die wir in diesen kapitalistischen Staat reingeboren werden, erkennen oder nicht erkennen und dementsprechend handeln oder nicht. Der Mensch dominiert die Welt und versucht sich alle diese nichtmenschlichen Lebewesen zu Sklaven zu machen. Viele verstehen mittlerweile, dass es so nicht mehr lange gehen kann. Es gibt viele, die verzweifeln an dem Gefühl der Ohnmacht, manche schreiten zur Tat, doch sehen nicht das große Ganze als Problem, sondern nur den akuten Fall. Ich schätze, solange Menschen sich in Hierarchien einordnen, sich dem Geld-Wert-System unterwerfen und Gesetze ohne darüber zu sinnieren anerkennen, steht die Aussicht auf langfristige Veränderung, die für uns alle wichtig wäre, in weiter Ferne.
Nachdem ich den dritten Text über Telephon diktiert habe, schnitze ich an einem Stück Rotbuche herum, in das ich „te‘ stimo“ meißeln will. Die zwei, die unten an dem vierten in der Arena stehenden Generator Wache schieben, „kenne“ ich schon von heute Morgen. Sie sind ganz witzig und weil sie sich ja nicht … mit mir unterhalten dürfen, schlage ich vor, wir könnten uns ja Briefchen schreiben. Sie nicken zustimmend und an einem Seil lasse ich einen Źettel herunter: „Na, wie geht’s Euch da unten?“ Seil mit dem Zettel unten angekommen ist, schlendert der eine wie zufällig hin, nimmt den Zettel, macht nochmal einen „zufälligen“ Bogen um die Hebebühne und geht zurück zu dem anderen. Sie lesen den Zettel und auffällig unauffällig hustet er: „Sehr gut.“ Zu einer schriftlichen Antwort kommt es leider nicht, denn ein anderer Wachmensch betritt die Arena. Di21e drei spaßen herum, schubsen sich leicht und rufen dabei „Bröb“ mit rau gerolltem „R“. Ich will mitspaßen und als sie mich mit ihren Taschenlampen anleuchten, schäle ich mich aus meinen zwei Schlafsäcken und ziehe mir die Schuhe an. Dann baue ich meine Brustprusik ins Kletterseil, danach die Acht zum Abseilen, lasse das Seil zur Hälfte hinunter, überprüfe nocheinmal Gurt und Sicherungen und beginne mich herabzulassen. Die drei unter mir werden still. Aus einer anderen Ecke höre ich eine Stimme sagen: „Die lässt sich runter.“ An der Hälfte des Seils angekommen drehe ich mich kopfüber und rufe „bröb“ und lache. Unter mir antwortet es: „Bröb“. Es tut gut wieder einmal alle Viere von mir zu strecken. Auf einmal kommt Bewegung in den Laden. Ich sehe, wie sich immer mehr Securities in die Arena machen. Manche haben es richtig eilig. Ich baumle noch ein bisschen herum und bröbe noch ein paar Mal zu der versammelten Mannschaft hinunter, während noch mehr, vor allem weiße, Jeeps angesaust kommen. Einer fragt etwas verunsichert: „Kommst Du jetzt runter oder was?“ Und ich bilde mir ein, entweder eine Spur Hoffnung oder Enttäuschung
in seiner Stimme mitschwingen zu hören. Ich lache sie alle verzückt an, drehe mich im Kreis und antworte: „Oh, habt ihr das tatsächlich geglaubt?“ Als ich wieder oben meine Beine von der Plattform baumeln lasse und die ersten bereits wieder den Rückzug angehen, sehe ich einen Vereinzelten in Warnweste hinter einem Hund in die Arena hasten und höre ihn fragen: „Wo ist sie?“ Ich lache auf ihn herab und erkläre ihm, dass die Show bereits vorbei sei und ich nett oben bleiben werde. Ich höre das letzte „Bröb“ für diesen Abend und antworte zum letzten Mal auf die selbe Weise.
Während sich vor dem Eingang zur Arena wieder eine Karre vorfährt (zwei Stunden später noch immer mit laufendem Motor davor steht, weil sie sie nicht rausgekriegt haben), sitze ich am Rande meiner Plattform, esse eine Orange, knacke Erdnüsse und versuche mit den Schalen in den Korb der Hebebühne unter mir zu treffen. Den Bericht schreibe ich auf Klopapier, weil ich kein Schreibpapier mehr habe. Dann putze ich mir die Zähne, rufe „Gute Nacht allerseits“ und lege mich schlafen.
Köstlich! – Ich bin bei Dir – Du bist nicht allein !