Folgende Text erreicht uns:
| Bodenlos
Ich bin der Boden und manchmal- das muss ich zugeben- lache ich über euch Menschen. Ihr wuselt auf mir herum und denkt ihr wärt so groß, hättet so viel Macht. Ja, es tut weh, dass ihr mich missachtet, meine Gaben nicht wertschätzt, aber ihr seid es, die daran zugrunde gehen werden. Ich existiere schon seid Milliarden Jahren, habe mich immer verändert, werde mich weiter verändern, werde weiter existieren. Mit oder ohne euch.
Wir liegen umhüllt von einer grünschattierten Hängematte eingehüllt in unsere eigene Wirklichkeit. Über uns das saftige Dach des kleinen Wäldchens, etwas abseits vom Troubel des Camps. Wir sind zugleich draußen in Freiheit und geborgen in unserem Cocon. Es ist ein Ort der Zeitlosigkeit, ein Ort an dem Geschichten geteilt werden können. Geschichten, die so kraftvoll und zerbrechlich zugleich sind, dass sie sich nur an Orten wie diesen trauen die Lippen des Erzählenden zu verlassen. Eine solche Geschichte macht sich nun auf den Weg zu meinem Ohr. Und Momo-so nenne ich mich hier- hört zu.
„Warst du mal dort? Hast du sie mal gesehen? Die Grube? Diese riesige Wunde, die in der Landschaft klafft? Ich war da. Heute morgen. Am Rande der Grube. Vor mir dieses gigantische Loch. Die monströsen, kalten Maschinen, die die Haut der Erde aufreißen und sich tief in ihr Fleisch bohren um an Braunkohle zu gelangen.
Und hinter mir der Wald, dessen Blätter leise im Wind rascheln. Die Vögel, deren Lieder noch von Harmonie erzählen. Die Bäume, die geduldig auf ihr Schicksal warten. Im Oktober werden die stählernen Kreaturen auch ihnen den Boden unter den Wurzeln wegreißen. Jetzt ist schon Ende August.
Und wie ich so dastehe ist es plötzlich, als ob ich nicht zwischen Grube und Wald stehe, sondern: ich bin die Grube und ich bin der Wald. Die Wunde klafft in meinem Körper, das Schicksal des Waldes ist mein Schicksal, dass mir bevorsteht und gegen das ich mich nicht wehren kann. Ich sinke zu Boden. Kann kaum noch atmen, meine Brust wird eng, mein Körper zittert. Und dann reisst ein Fluss aus Tränen sämtliche Dämme der Selbstbeherrschung ein. Ich weine und weine und weine. Ich weine weil ich nicht gefragt werde. Ich weine weil diese Wunde nicht heilt, sondern immer bloß größer und größer wird. Ich weine weil ich Angst habe, mich hilflos fühle. Was passiert mit mir? Wozu eigentlich? Sind das Wachstumsschmerzen? Fühlt sich so Fortschritt an? Meine Tränen gießen den Boden, aus dem lange kein Samen mehr keimen wird.
Ich hätte immer weiter weinen können. Ich glaube nicht, dass ich irgendwann fertig gewesen wäre, dass die Tränen von selbst versiegt wären. Aber irgendwann habe ich es geschafft all den Schmerz beiseite zu drängen, die Gefühle wieder weg zu schließen. Die Dämme der Selbstbeherrschung wieder zu errichten. Weiter zu funktionieren.
Weißt du, der Boden ist geduldig. Er war schon vor Millarden Jahren da und hat noch viel Zeit um auf die Heilung der Wunden zu warten. Zu warten, bis irgendwann wieder ein Samen da keimt, wo jetzt nur ein großes Loch ist. Aber was ist mit uns? Wenn wir den lebendigen Schmerz in uns nicht zulassen können, weil er uns überwältigen würde, wenn wir unsere Trauer, unsere Angst, unser Mitgefühl wegsperren müssen um nicht zusammen zu brechen- entwurzeln wir uns nicht selbst, indem wir diesen Maschinen erlauben den Boden aufzureißen? Flüchten wir nicht in eine Wirklichkeit, die dem Wortsinn „Leben“ nicht mehr entspricht?
Was ich da gefühlt habe, das war kein Weltschmerz. Keine Sorge um die Welt. Das war mein Schmerz. Mein Schmerz als Teil der Welt.“
Ich schaue in deine blauen Augen, die jetzt wieder trocken sind und umrandet von Lachfalten, die ich zart erkennen kann auch wenn du nicht lachst. Als wollten sie trösten in dem sie sagen: Alles halb so wild. Just smile. Das wird schon wieder. Aber deine Geschichte hat es gewagt deine Lippen zu verlassen und ist in mein Ohr eingedrungen. Deine Worte haben, eins nach dem anderen, meinen zerbrechlichen Entschluss stabilisiert. Bis Oktober sind es noch ein paar Wochen. Es ist erst Ende August. Genug Zeit ein Baumhaus zu bauen und mich darauf vorzubereiten nicht freiwillig zu gehen. Ich habe Angst, aber ich fühle mich schon etwas weniger hilflos. Vielleicht ist es an der Zeit meinen Hängemattencocon zu verlassen, das Schicksal des Waldes, dein Schicksal, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Die Vögel um mich herum schlagen Alarm während ich mich entpuppe. Ich habe einen Einfluss auf das, was um mich herum geschieht. Und wenn ich mich bedacht bewege und friedliche Absichten habe, kann ich die Vögel beruhigen und dazu beitragen, dass wieder Harmonie einkehrt.
Danke für diese bewegende Beschreibung!
Wenn die Geschichten ins Ohr dringen und das Gesehene das Herz erreicht, dann erkennt der Mensch , dass er handeln muss. Ob im Baumhaus , ob Infrastruktur aufgebaut wird, ob auf politischer Ebene oder ob vegane Schokolade gebracht wird. Alles macht Sinn.
Wir alle müssen Geschichten erzählen und Bilder zeigen.
Es grüßt Euch
Frau Heinrich