Eine Woche ist die Räumung der Besetzung Neuland nun her. Für alle, dies nicht wissen, was, warum und wie, hier eine kurze Zusammenfassung: Anfang November, kurz nach der gewaltsamen und ereignisreichen Räumung der Besetzung Grubenblick (*1.10.14 – +30.10.14) wurde auf einer etwa 250 Jahre alten amerikanischen Eiche direkt an der Rodungskante im Hambacher Forst eine Plattform errichtet, genannt „Neuland“. Wärend ihrer Existenzzeit war sie immer besetzt, obwohl die vier von RWE angeheuerten Securityfirmen ihre Wegkontrollen mächtig intensiviert hatten. Auf diesem Wege versuchten sie, uns die Aufrechterhaltung der Besetzung derart zu erschweren, dass wir aufgäben. Als dies nichts half und sie feststellen mussten, dass wir es immer wieder schafften, die Person auf der Plattform auszuwechseln, stellten sie am 25.11.14 rund um den besetzten Baum in einem Radius von 40 bis zu 100 Metern einen Bauzaun und vier Generatoren auf, um den eingezäunten Bereich bei Dunkelheit taghell zu erleuchten. Außerdem platzierten sie eine Kiste mit Obst unter dem Baum, scheinbar um die Person auf der Plattform runter zu locken und rechtliche Schwierigkeiten zu umgehen. Höchstwahrscheinlich wollte RWE auf diese Weise eine kostspielige Räumung durch die Polizei umgehen. Am Freitag, dem 28.11.14, fand eine gut besuchte Mahnwache in der Nähe von Buir statt, welche auf die mehr als fragwürdigen Methoden einer privaten Securityfirma aumerksam machen wollte. Schließlich zog die Mahnwache friedlich zum Bauzaun bei „Neuland“, fand ihren Weg ins innere des Bauzaunes und es gelang, dass eine Person hoch und der vorherige Besetzer runter klettern konnten. Die wenigen Securitys hatten nicht damit gerechnet und waren mit den etwa 30 friedlichen und unterschiedlichen Spektren zuordbaren Menschen überfordert. Ein Security schlug mehrmals mit einer Taschenlampe auf einen der Aktiven ein, welcher eine blutende Kopfverletzung davontrug. Die später eintreffende Polizei nahm etwa 20 Personen fest, ließ aber alle nach einigen Stunden wieder frei, die meisten verweigerten die Personalienabgabe und blieben so anonym. Sieben Nächte und sechs Tage verbrachte dann eine Aktivistin auf der alten Eiche, welche schon längst hätte gefällt sein sollen. AM 4.12.14 wurde die Besetzung dann durch die Polizei geräumt. Sie berichtete von ihrer Zeit dort oben, bis am 3. Tag der Handyakku aufgab. Hier erscheinen nun die noch fehlenden Teile bis zur Räumung…

Hier die bisherigen Berichte (in leicht veränderter Anordnung):
Neuland – Ablösung, Eskalation, Chaos
Nachricht aus Neuland #1
Nachricht aus Neuland #2
Nachricht aus Neuland #3
Nachricht aus Neuland #4
Nachricht aus Neuland #5
Nachricht aus Neuland #6
Nachricht aus Neuland #9
Räumung von Neuland

Nachricht aus Neuland #7
Dienstag, 2.12.14

Weder Freund noch Feind

Wie nun jeden Morgen wird die Karre, die sich am Abend zuvor festgefahren hat, mit vereinten Kräften und mit Hilfe eines weiteren weißen Jeeps aus dem Schlamm gezogen. Die Kennzeichen sind ausnahmslos nicht im Ansatz überhaupt zu erkennen, weil sie alle mit einer dicken Schlamm- und Staubschicht bedeckt sind. Grade sind nur 12 Securitys anwesend und zwei neue Hunde; ein Schäferhundmischling (vermute ich) und ein Schafs-Teddybär-Mischling. Ersterer ist aufgeweckt, verspielt und reagiert allein auf ein Kopfnicken seiner Bezugsperson. Zweiter ist super gemächlich und wirkt verschlafen. Ein Neon schaut sich um und ruft dann grade mal so laut, dass ich es verstehen kann: „Ey Neuland, lebst du noch?“ Ich grinse ihn an, strecke beide Daumen nach oben und winke. Er lächelt mir zu und später werde ich erfahren, das ist „Mr. M“, der viele solidarische Kommentare unter den Neuland-Nachrichten hinterlässt.

Aus den Feuertonnen qualmt es ordentlich, so dass der vertraute Geruch von Lagerfeuer hin und wieder zu mir aufsteigt. Es war eine sehr feuchte Nacht. An der glatten Rinde einiger junger Rotbuchen hat sie sich unregelmäßig abgesetzt.
Von der Plane über mir tropft manchmal Wasser hinab in den Abgrund.
Nachdem zwei Securitys und ich uns gestern Abend noch ein paar Mal zugeblinkt haben, ich mit meiner Kopflampe und sie mit einer Taschenlampe und Autoscheinwerfern, bin ich mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen. Es scheint verquer, aber ich fühle mich wohl hier. Ich bin immer aufmerksam, weil ich natürlich nicht weiß, was sie als nächstes tun werden, um mich dazu zu bringen, aufzugeben, aber bisher trägt jeder vergebliche Versuch eher zum Gegenteil bei. Diese Aktion macht so unglaublich viel Sinn und ist bereits jetzt schon so erfolgreich, dass dieses erfüllende Gefühl in mir jeglichen fehlenden Komfort, wie zum Beispiel uneingeschränkte Bewegungsfreiheit, vollständig Wetter geschützter Raum, warmes Essen und so weiter, aufwiegt und ich eine tiefe Zufriedenheit fühle hier zu sein, den meistens Teil des Tages dick eingepackt in zwei Schlafsäcke, steife Arme und Beine, kaltes Essen, ein Eimer für Geschäfte und eine Horde Überwacher_innen, von denen manche mir nichts Gutes wollen. Wenn ich mir vorstelle, dass die alle wegen einer einzigen Person auf einem Baum sich die Zeit und Nacht um die Ohren schlagen, wo ich doch eh nicht von allein runter komme wie ich weiß, kann ich nur bedauernd lächeln und den Kopf schütteln. Andererseits, wer weiß, vielleicht hat die gemeinsame Zeit um die Feuertonnen einen sozialen Wert, der verloren wäre, wenn sie alle vereinzelt wie sonst in ihren Karren sitzen und sich vor allem mit ihren Smartphones die Zeit vertreiben würden. Außerdem ist der hypnotisierenden Effekt von züngelnden Flammen und heißer Glut nicht zu unterschätzen…

Meine zwei „Kumpanen“ von gestern sind wieder – oder immer noch? – da. Isco leider nicht. Ein jüngerer Neon erklärt mir, Isco sei auf nem Einsatz, ich würde ihn aber wieder sehen, wenn ich runter käme. Ich lache und sage: „Netter Versuch. Grüß ihn von mir wenn du ihn siehst.“

Ich räume auf und sortiere alles auf der Plattform. Ich will mich bereits vorbereiten auf die nächste Auswechslungsaktion. Das bleibt hier – das kommt mit – daran muss ich denken und an das die anderen. Am Telefon gebe ich meine Überlegungen zur nächsten Tausch- Aktion an die anderen weiter. Nach dem Telefonat muss ich mit Entsetzten feststellen, dass ich nur noch einen Balken von fünf in der Akkuanzeige habe. Shit. Keine Telefonate mehr, wenn nicht unbedingt nötig, also auch keine Nachrichten von Neuland für den Blog. Schade aber ich muss wenigstens bis Freitag noch ein bisschen einsparen…

Den Rest des Tages mache ich wenig, hänge sozusagen in den Seilen und meinen Gedanken nach.
Irgendwann kann ich nicht widerstehen dass Handy kurz anzumachen, denn was ist, wenn sie da ein paar ganz wichtige Fragen oder Infos haben? Nur ganz kurz, um zu kucken, ob es Nachrichten gibt. Als das Ding zur Begrüßung in meiner Hand vibriert, erschrecke ich, als ich lese: Akku fast leer. F**k. Was?! Warum geht das denn jetzt plötzlich so schnell?! Irgendwie habe ich vor nix mehr Angst hier oben, als dass der Akku zu Ende geht. Ich versuche logisch darüber nachzudenken, was es bedeuten wird, wenn das Handy nicht mehr zur Verfügung steht. Eigentlich bedeutet es „nur“, dass ich einfach für einen gewissen Zeitraum keinen Support von außen direkt wahrnehmen kann und in Situationen, in denen etwas wirklich Relevantes für alle passiert, nicht Bescheid geben kann. Die Solidarität der Leute mitzubekommen und die Stimmen geliebter Menschen zu hören (und auch ein bisschen das Durchgeben der Nachrichten) sind Balsam für meine Seele und machen mich körperlich und mental warm. Mir graut davor, wenn das nicht mehr möglich ist. Dann bin ich ganz allein.

Es gibt mehrere Nachrichten und besonders zwei von ihnen lassen mein Herz und meine Stimmung Purzelbäume schlagen. Die eine Nachricht berichtet mir von einem Kommentar unter den letzten Nachrichten aus Neuland von einem Mr.M, der heut morgen zu mir hoch gerufen hätte und sich absolut solidarisch erklärte. Aus der anderen SMS erfahre ich, dass in diesen Tagen jemand seinen Job gekündigt hat, weil diese Person das so nicht mehr kann und will, trotz des Geldes. (Ich würde gerne ins Detail gehen aber aus Sicherheitsgründen lasse ich das besser.)

Ich mache dass Scheißteil wieder aus und springe aus den Schläfsäcken. Ich muss mich bewegen, sonst platze ich vor Freude! Ich muss nicht weiter überlegen oder entscheiden, was ich tue, denn klettern und bauen sind die einzigen Bewegungsmöglichkeiten. Ich bringe dass Kletterseil an und lasse es zur Hälfte runter. Es muss etwa 16:30 sein, denn gerade werden die Generatoren angemacht. Die ersten Neons versammeln sich bereits unter mir und während ich mich erst langsam, dann schneller abseile, kommen immer mehr hinzu. Nun hänge ich genau zwischen Plattform und Erdboden in meiner Sicherung. Ich drehe mich kopfüber und begrüße die staunend-glotzenden Gesichter der Neons unter mir.
Einer fragt, ob er mich filmen darf. Ich finde es anständig von ihm zu fragen und da ich eh schon mindestens fünf Smartphone-Linsen auf mich gerichtet seh, erlaube ich es ihm. „Wow, jetzt kann ich euch alle ja mal wirklich sehen!“, grinse ich, während ich mir die Augen abschirme, um gegen das Licht der Generatoren in einige Augenpaare zu blicken. Manche Mundwinkel ziehen sich mehr oder weniger auffällig Richtung Ohren links und rechts und in den Augen leuchtet ein Grinsen, in anderen Gesichtern entdecke ich zusammengezogene Augenbrauen oder zusammengekniffene Lippen und es gibt auch welche, die sich wenig beeindruckt zeigen und bloß darauf warten, ob nun was passiert oder nicht. Jemand fragt: „Ist das ein Ablenkungsmanöver?“ und ich antworte: „Du wirst es ja sehen! Hängt ja letztlich von euch ab, ob ihr euch ablenken lasst“ und zwinkere zu ihm runter. „Aber ihr kennt mich ja jetzt schon ein bisschen, wie ich sehe, diesmal seid ihr nicht so viele.“
Ich drehe mich noch ein bisschen im Kreis und auf den Kopf, strecke und dehne mich, soweit mein Gurt es zulässt, dann erkläre ich, dass ich mich mal wieder auf nach oben mache. Auf dem Weg muss ich an einem toten Ast vorbei klettern und befürchte, ihn runter zu reißen. Besser ich breche ihn gezielt ab. Ich setzte den Fuß an, doch zwei Neons stehen direkt darunter und ich erkläre ihnen, sie sollten besser etwas zur Seite gehen, weil ich den Ast abbrechen wolle, da es sonst versehentlich passieren könne. Sie starren einfach weiter zu mir auf und scheinen zu ignorieren, was ich eben gesagt habe. „ Hey Leute, es bringt uns allen nicht viel, wenn du oder du nen Ast aufm Kopf kriegst. Also geht besser zwei, drei Meter zur Seite.“ Der eine von ihnen, es ist das Solarium, bewegt sich etwas unsicher einen Meter zur Seite doch der andere bleibt einfach stehen. Ach man, Junge. „Siehst du wie der ganze Ausläufer hier wackelt, wenn ich mit dem Fuß dagegen drücke? Ich will den Ast abbrechen und er wird in etwa da aufschlagen, wo du jetzt stehst. Ich meins schon ernst, geh einfach ein paar Meter zur Seite.“ Das Solarium hat sich mittlerweile noch weiter von dem anderen entfernt und steht nicht mehr im Gefahrenbereich. Ich fordere ihn noch ein letztes Mal auf, weg zu gehen und als er sich noch immer nicht regt, drücke ich mit dem Fuß den Ast. Es knackt, aber er bricht noch nicht. Ich warte noch einen Moment, rufe dann „Achtung, Ast fällt“ und gebe einen weiteren Stoß. Langsam bricht er und dann wirbelt er durch die Luft auf den Boden zu. Der Neon beachtet den Ast, weicht aus und der Ast landet fast da, wo er gestanden hat.

Oben wieder angekommen mache ich mich dann daran, mein Dach umzubauen. Als ich gerade mit einem Knoten kämpfe, um ihn aufzubekommen, sehe ich auf einmal kleine, weiße Puschel vor dem Licht meiner Kopflampe schweben. Überrascht und ungläubig schaue ich in den Himmel. „Hey Leute, es schneit!“ rufe ich entzückt. „Ich hab mich schon gefragt ob ich wohl hier oben den ersten Schnee erleben werde. Wie gut, dass ich grad mein Dach neu mache!“ Ich freue mich, wie wahrscheinlich viele Kinder in diesem Moment, die nun vielleicht wie ich mit einem Lächeln auf den Lippen in den Himmel blicken.
Ich wirble auf der Plattform hin und her wie die Schneeflocken durch die Luft, mal ziehe ich hier stramm, mal löse ich da einen Knoten. Auf einmal spüre ich einen Zug am Kopf, weil meine Kopflampe an einem gespannten Seil hängen bleibt und dann sehe ich gerade noch, wie sie vom Rand der Plattform fällt. „Oh Nein!“ Mist! „Kann sie wenigstens jemand ausmachen?“ rufe ich runter und einer der Securitys, mit dem ich in den letzten Tagen häufig gewitzelt habe geht zu der Kopflampe. Ich schöpfe etwas Hoffnung und lasse ein Seil direkt daneben langsam runter. Ich lasse es da hängen und entziehe mich ihres Blickfeldes, vielleicht hängt er sie ja in einem unauffälligem Moment wieder ans Seil. Als ich wenige Minuten später wieder hinblicke, bin ich verwirrt. Dass Seil hängt nicht mehr grade runter sondern schräg. Hä?! Als ich das Ende des Seiles suche, entdecke ich es angebunden an die Hebebühne. Oh man. Na toll. Er hat mein Seil festgebunden. Wenn das Seil nicht frei hängt, sondern gespannt ist, ist es nicht möglich sich mit der einfachen Abseilmethode die ich kenne, zu Boden zu lassen. „Yo, jetzt könnt ihr euch endgültig jede Hoffnung sparen, dass ich von allein runter komme!“ rufe ich runter.
Die Hebebühne wird angemacht.
Was haben sie jetzt vor?
Eine winzige Hoffnung schimmert irgendwo in meinem Hinterkopf, dass er mir die Kopflampe doch wieder gibt. Zwei fahren langsam hoch. Ich gehe ans andere Ende der Plattform, wo sie mich nicht erreichen, ich sie aber sehen kann. Ich hocke mich hin, jederzeit reaktionsbereit, wie ein wildes Tier und schaue sie einfach nur ernst an. Einer fragt, ob alles klar sei bei mir. Ich antworte nicht auf diese doofe Frage, sondern schaue sie einfach nur weiter an. Wenn sie mir die Lampe geben wollen würden, können sie das einfach tun aber ich werde nicht darum betteln.
Auf dem Weg nach unten höre ich den einen sagen: „Schneid das Seil ab.“ und als sie wieder unten sind, ist mein Seil nur noch halb so lang. Ich ärgere mich ein bisschen über meine irgendwie naive Herangehensweise. Sie sind weder Freund noch Feind. Aber sie sind halt auch weder Feind noch Freund. Egal, nun ist das so, und da ich eh nicht vor hatte, runter zu kommen, auch nicht so schlimm. Wenn die anderen kommen, kann ich einige Seilreste aneinanderknoten und zumindest die neue Versorgung hochziehen, dann bleib ich halt noch ein bisschen länger oben. Und eigentlich will ich das auch.

Zum Glück war ich schon so gut wie fertig mit den Umbauarbeiten. Ich kann mich nun ganz gut ihrer Überwachung entziehen, denn zwei von vier Seiten kann ich nun ganz einfach mit der Plane abhängen. Da ich ohne Licht nicht mehr so viel machen kann und eh noch frustriert und langsam müde bin, putze ich mir die Zähne und lege mich hin.
Ich denke noch lange über diese Menschen nach, die da unten in gelben Warnwesten teilweise Befehlen und Anweisungen folgen. Heute habe ich zwei Gegensätze kennengelernt und wieder die Erfahrung gemacht: Lass dich nicht von deinen eigenen Vorurteilen täuschen. Es sind einfache Leute, für viele von ihnen ist es einfach nur ein Job, ohne dass sie weiter darüber nachdenken würden. Sie bekommen nicht besonders viel, viele arbeiten schwarz, weil sie irgendwie über die Runden kommen müssen. Viele sind nach Deutschland gekommen, weil sie in dem anderen Land schlechten Lebensbedingungen unterworfen waren. Das rechtfertigt alles nicht, dass sie sich an der Zerstörung des Planeten beteiligen, doch primär sind nicht sie das Problem, sondern das System an sich, welches sie dazu bringt, so weit zu gehen. Sie sind Sklaven des Systems, möglicherweise ohne es zu merken.
Ich finde eine Möglichkeit, wie ich mit dieser Enttäuschung und diesem Reinfall von heute schlafen kann: Ich werde mir erlauben, mich morgen zurückzuziehen, um zu schreiben, einen Text an die Neons, und eine Art Sprechrohr zu basteln und es am Donnerstag rausschreien. Ich erhoffe mir nichts von dieser Aktion, stelle keine Erwartungen, die enttäuscht werden könnten, ich will den heutigen Tag bloß nicht unkommentiert vorüberziehen lassen.

Nachricht aus Neuland #8
Mittwoch, 3.12.14

Schnee

Ich träume wild in dieser Nacht. Mehrmals träume ich davon, wie „meine“ Leute auf verschiedenartig spektakuläre Art und Weise Sachen zu mir hochschicken. Leider waren es solche Realitätsträume, in denen du voll drin bist und dann wachst du auf und versuchst den Traum zu rekonstruieren und je mehr du dich anstrengst, desto mehr entgleitet dir die Erinnerung. Als ich dann irgendwann nicht mehr leugnen kann, dass ich nun endgültig wach bin und mir die Mütze von den Augen ziehe, stelle ich überrascht fest, dass es schon hell ist. Ich habe scheinbar doch recht lang und verhältnismäßig durchgehend geschlafen. Ich ziehe mir beide Kaputzen der Schlafsäcke über den Kopf, lehne mich an einen der tragenden Äste der Eiche, esse Müsli und stricke danach einige Runden. Es ist so kalt wie noch nie, seit ich hier oben bin, aber es geht. Nach jeder zweiten Runde muss ich zwar Pause machen, um meine Hände unter der Decke aufzuwärmen, aber ich bin doch sehr positiv überrascht, wie warm mir trotz der Kälte ist.
Dann fängt es wieder an leicht zu schneien. Doch die Beständigkeit zeigt sich schon bald in Form eines weißen Schleiers, der sich über alles legt. Mist. Ich muss noch mal umbauen, sonst werde ich eingeschneit. Glücklicherweise ist die Plane sehr groß, ich habe genug Material hier oben, um mich vor dem Wetter so gut es geht zu schützen. Ich schäle mich aus meinem Deckenpanzer und während ich arbeite, wird mir schnell warm. Ich mache mir ein bisschen Sorgen. Schnee ist schön und ich freue mich darüber, aber in meiner Lage ist er nicht das kleinste Problem, mit dem ich dealen werde müssen. Wie lange werde ich dem Wetter standhalten können? Ich mache mir weniger Gedanken um mich als lebendigem Organismus, denn die Schlafsäcke und dass Essen sind nicht von dem Wetter bedroht, aber dass Wasser! Wenn mir dass Wasser einfriert, könnte dass zu einem Problem werden und daran kann niemand außer unter Umständen ich selbst etwas ändern. Ich fülle meine Trinkflasche auf. Es sieht schön aus, wie die ersten Eisstücke darin schweben. Erinnert mich an Vodka. Ich nehme einen Schluck. Eigentlich geht’s. Solang ich warm bleibe, kann ich auch mit gefrorenem Wasser umgehen. Ich verbrauche ja auch nicht viel Energie hier oben, denn außer Atmen, Trinken, Essen, Schlafen und Stoffwechseln muss ich nicht viel machen. Und mich selbst bei Laune halten, aber darum mache ich mir keine Sorgen, das gibt sich von allein.

Als ich mit Freund_innen in Auschwitz war, es muss um diese Zeit vor zwei Jahren gewesen sein, war es eisig kalt gewesen und ich erinnere mich noch gut daran, dass ich es kaum glauben konnte, dass manche Menschen, die in eines dieser schrecklichen Lager gesteckt wurden, teilweise bis zu 6 Jahre unter extremsten Bedingungen überlebten. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs war es so unfassbar kalt gewesen und es fiel mir mit klappernden Zähnen verdammt schwer, mir vorzustellen, dass Menschen bei solch eisigen Temperaturen mit so wenig Kleidung, Nahrung, ärztlicher Versorgung und wahrscheinlich Schlaf, nicht einfach auf der Stelle tot umgefallen sind.

Ich vergleiche meine Situation nicht mit der der Gefangenen in den Konzentrationslagern zur Zeit des zweiten Weltkrieges. Die Vorstellung, dass menschliche Lebewesen unter extremen Bedingungen dennoch überleben können, gibt mir aber auf eine absurde Art und Weise das sichere Gefühl, dass noch viel kommen muss, damit ich aufgeben muss.
Außerdem bin ich gut ausgestattet. Ich werde hier bleiben, bis es mir auf den Tod nicht mehr möglich ist! Denn nun kämpfe ich hier zwei Kämpfe: Ich kämpfe gegen die Rodung des Hambacher Forstes und das Voranschreiten des größten Braunkohle Tagebaus Europas. Doch nun kämpfe ich vordergründig dafür, überhaupt Widerstand zu leisten in einem Staat, der behauptet, demokratisch organisiert und deshalb und allgemein besser zu sein, als die meisten anderen Staaten dieser Welt. Doch in Wahrheit hegt er ein Interesse daran, dass Menschen zwangsumgesiedelt und wenn nötig, zwangsenteignet werden, ein riesiges, uraltes Ökosystem einfach dem Erdboden gleichgemacht werden soll und der Erdboden gleich mit dazu. Von den Tieren ganz zu schweigen, denn angebliche Rechte haben ja fast nur solche, von denen irgendein menschliches Wesen behauptet, es gehöre ihm oder ihr. Die nicht-menschlichen Lebewesen haben am wenigsten Chancen, in diesem System Einfluss zu nehmen. Jedenfalls nicht auf den Wegen, die vorgesehen sind. Sie leben nach den Gesetzen der Natur, nicht des Menschen und können keine menschengemachten Rechte einfordern. Was ist ein Gesetz im Angesicht des Todes? Was ist, wenn der Tod erst durch ein Gesetz ermöglicht, erzwungen wird? Gesetze und Rechte stehen nicht immer automatisch für Gerechtigkeit und Fairness, wie es gern behauptet wird. Um so notwendiger wird es, sie zu hinterfragen. In diesem Falle ermöglicht ein einziges Gesetz nicht nur das Töten und Rauben und Zerstören, sondern obendrauf auch noch, dass die Ausbeuter_innen nahezu unantastbar, vom Gesetz geschützt werden.
Wie sieht das System Veränderung vor? Über lange, bürokratische Wege, wofür du nicht nur jede Menge Zeit und Geduld sondern auch Wissen und Geld und Anerkennung brauchst. Doch der Abbau wartet gewiss nicht darauf, dass alle erkennen und verstehen, wie lebensfeindlich das ganze Vorhaben ist und dass der Nutzen fürs Allgemeinwohl dagegen einen minimalen Anteil nimmt. Im Gegenteil wird der infrage gestellte Konzern eher alle Mittel und Kontakte in Bewegung setzen, um den unvermeidlichen Umbruch so lang wir möglich heraus zu zögern. Denn es geht hier schließlich um Kohle…also Geld…und das ist, was zählt in diesen Zeiten. Geld ist, was die meisten von uns erpresst, all ihre Zeit, Freude, Glück, Freunde, Familie, Liebhaber_innen und schließlich ihr Leben zu opfern, teilweise ohne es zu merken. Denn genau dazu brauchen sie das Geld ja, um sich all diese und andere künstlich erschaffenen Sehnsüchte erfüllen zu können.
Ist dass wirklich so? Diese Frage stellen sich leider bloß wenige, denn sie sind nichts anderes gewöhnt, kennen es nicht anders. Und so dreht sich das Hamsterrad immer weiter, angetrieben von Gier, Geiz und menschlicher Dummheit. Es sei denn, wir fangen an, uns aufzubäumen, aufzustehen und uns zu widersetzen, geleitet von Liebe zum Leben und der Freiheit, nicht nur tun zu können, was du willst, sondern auch zu lassen, was du nicht tun willst.
Geschichte wiederholt sich? Na, dann dürften wir ja so langsam wieder an dem Kapitel des Umbruchs angelangt sein, dann haben wir ja nichts zu verlieren als unsere Fesseln . Der Prozess ist ja schon längst im Gange! Wie müssen nicht erst noch den Anfang machen, bloß entscheiden und loslegen. Hier und auf der ganzen Welt leisten Menschen Widerstand gegen die Machtverhältnisse, die die meisten von uns versklaven, foltern, unserer Freiheit und Willenskraft berauben und schließlich auch nach und nach jegliche Lebensgrundlage zerstören.

Wäre dieses Loch hier das einzige, wäre die Abholzung dieses Waldes eine Ausnahme, dann wäre es nicht so gewichtig, wie im Angesicht der vorherrschenden Realität, in der Löcher wie dieses gegraben, Berge gesprengt, in der Erde gebohrt, Tunnel gegraben, menschenfreie Gebiete ausgetrocknet, Wälder abgeholzt, giftige Abwässer und anderer Sondermüll einfach in die Natur entsorgt werden…diese Liste ist nahezu endlos weiterzuführen, doch es ist nicht nötig! Alle wissen es, doch die Beständigkeit schläfert ein. Du hörst davon und denkst „Oh, wie schrecklich!“ und meinst es auch so, doch du spürst die Auswirkungen nicht direkt und weißt nicht wohin mit dem plötzlichen Tatendrang oder verfällst der Ohnmacht, nicht zu wissen, was du tun kannst. Doch wir müssen nicht nach Südamerika und uns dort mit den Paramilitärs rumschlagen, es gibt genug Baustellen hier, oftmals gleich vor der Haustür. Überall auf der Welt leisten Menschen Widerstand, denn es geht um unser aller Leben und Tod. Wir alle tragen Verantwortung für unser Tun und das Leben anderer, wir müssen uns dieser Verantwortung bewusst werden und verstehen, dass es auch Gewalt bedeutet, wenn wir nicht handeln, obwohl wir wissen, was passiert. Wir müssen lernen, uns nicht unhinterfragt auf Gesetze zu verlassen und ihnen zu unterwerfen, sondern nach moralisch und ethischer Einschätzung zu handeln. Das kann bedeuten, dass die von anderen gemachten Gesetze überschritten werden müssen, aber in Zeiten des Fortschritts sollte dies mitinbegriffen sein, vielleicht ist es sogar unumgänglich.
Legal ist nun mal nicht gleich legitim.

Den ganzen Tag über schreibe ich. Meine Ellenbogen tun mir bereits weh, weil ich mich oft auf sie stütze beim Schreiben und im Rücken spüre ich ein Stechen, wenn ich zu lange aufrecht sitze. Doch ich muss mich einfach nur oft bewegen, dann geht dass auch wieder weg. Den ganzen Tag über lasse ich mich nicht blicken, denn ich sitze in meiner „Höhle“, die ich nun von allen Seiten zumachen kann, wenn ich will. Es ist sogar ein leichter Temperaturunterschied zu spüren. Das Gefühl, dass ich nun selbst entscheiden kann, wann sie mich sehen und ich mich zurückziehen kann, wenn ich meine Ruhe haben will, wertet den Aufenthalt hier wesentlich auf. Es hat mich zwar noch nicht so sehr gestört, dass sie mich ständig sehen konnten, aber es fühlt sich gut an, ihnen so einfach so viel zumindest gefühlte Macht und Überlegenheit zu nehmen, indem ich entscheide. Einmal gegen Mittag kommt der Neon, der gestern meine Kopflampe genommen hat, mit der Hebebühne zur Hälfte hochgefahren und fragt, ob alles gut sei. Ich schaue ihn ausdruckslos an und mache ihn darauf aufmerksam, dass der Eimer direkt über ihm hängt. Daraufhin macht er sich schleunigst dünne.
Gegen Abend passiert dasselbe wieder. Doch ich habe mich grade schlafen gelegt und keine Lust zu antworten. Schließlich muss ich nicht mit ihnen reden.
Ich kann die Nervosität in ihren Stimmen hören, als ich immer noch nicht antworte, als sie schon auf einer Höhe mit der Plattform sind und nach mir rufen und miteinander tuscheln und in ihre Funkgeräte sprechen. Dann spüre ich eine grobe, unregelmäßige Vibration an der Plattform und erschrecke. Für einen Moment denke ich, sie würden sich an dem Gitter unter mir zu schaffen machen, dagegen klopfen oder es aufschneiden! Doch ich konzentriere mich drauf, dass zumindest Zweiteres unwahrscheinlich ist und verstehe schnell: Sie haben den Eimer abgeschnitten! Ich muss grinsen. Dass macht es nicht unbedingt angenehmer für euch Leute, weder jetzt noch später. Doch mir solls recht sein. Sie fahren wieder runter und kommen dann erneut hochgefahren. Als sie bereits nah an meiner Plattform dran sind, entschließe ich, mich ihnen doch zu zeigen, weil ich befürchte, sie könnten die Plane zerschneiden, um mich zu sehen und das wäre doof. Außerdem hatten sie ihren Schrecken schon. Also zeige ich mich. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht!“ sagt der eine halb Vermummte vorwurfsvoll. Ach, dass ist ja herzzerreißend. Meine Überwacher_innen machen sich Sorgen um mich, weil sie mich nicht mehr überwachen können.
Der eine, der auch immer die Hebebühne fährt (er hatte es am zweiten Tag vom eigentlichen Hebebühnenführer gezeigt bekommen und nun die Schlüssel) ist auch der, der meine Kopflampe genommen hat. Ich spreche ihn ruhig darauf an, frage ihn, wo sie ist und ob er sie mir wieder gibt. Er schaut mich mit großen Augen an und weiß scheinbar nicht, was er sagen soll. Ein anderer antwortet für ihn, sagt, hier ginge es nicht um eine Kopflampe, sondern um meine Gesundheit. Ich wende den Blick nicht von dem Neon, den ich angespochen hatte, ab und antworte: „Um meine Gesundheit müsst ihr euch keine Sorgen machen, mir geht’s wohlmöglich besser hier oben, als euch da unten. Ich ärgere mich bloß darüber, dass er mir die Kopflampe nicht wieder geben will.“ Der Angesprochene ringt sich nun doch ein „ich hab deine Kopflampe nicht“ ab und er redet so leise, dass ich es kaum verstehe. Ich erinnere ihn noch mal genervt, wie das gestern abgelaufen ist, beachte den anderen in Schwarz (ohne Warnweste und mit Vermummung und Kamera), der noch mal versucht sich einzumischen, gar nicht. Er hat damit nichts zu tun, das ist was zwischen dem Neon und mir. Sag ich auch so. Der Neon besteht noch mal darauf, dass er die Lampe nicht habe und ich bin wirklich ernsthaft überrascht. Er könnte mir genauso gut sagen „Hey nö, ich geb dir die Lampe nicht wieder, die liegt schon längst im Müll“ oder sowas, er hat mir gegenüber ja nichts zu befürchten, außer vielleicht meinem Stuhlgang, aber ich verstehe nicht, was er sich davon erhofft, die ganze Sache zu leugnen. Ich gebe dass Gespräch für heute auf und ziehe die Plane wieder ran, während die anderen wieder runter fahren. Sie fragen noch, ob sie mal nen Sanitäter hochschicken können, der mich mal checken solle und ich sage ok, wenns ein Unabhängiger sei.

Etwa 15 Minuten später treffen mehrere Autos und ein Krankenwagen ein. Weiter hinten im Wald kann ich auch mindestens zwei Polizeiautos erkennen. Vorsichtshalber stelle ich mich auf Räumung ein. In der Hebebühne fahren wieder derselbe Neon und derselbe Vermummte in Schwarz mit Kamera und ein Sanitäter nach oben auf meine Höhe.
Ich schiebe die Plane ganz zur Seite und setzte mich an den Rand, so dass wir gut miteinander reden können. Der Sanitäter stellt sich vor, wir schütteln uns die Hände und er fragt mich, wie es mir geht. Es fühlt sich schön anders an, mal wieder mit wem zu reden und wen zu sehen, der mit all dem nicht direkt was zu tun hat. Er fühlt nach meinem Puls, leuchtet mir in die Augen und stellt Fragen nach Jahr und Ort an dem wir uns befinden und wie lange ich schon hier sei. Er sagt, es gäbe keinerlei gesundheitliche Bedenken und fragt, ob es denn sonst was gäbe, ob ich was bräuchte. Ich schneide nur kurz das Thema Kopflampe an, will ihn da aber auch nicht mit reinziehen, sondern nur noch mal die Gelegenheit nutzen, den Neon dran zu erinnern. Wieder leugnet er, sie zu haben. Ich wünsche dem Sanitäter eine gute Nacht, er mir auch und dann fahren sie wieder runter und ich mache die Schotten wieder dicht.
Ich mache das Handy an, um den anderen eine entwarnende SMS zu schreiben. Ich kenne das furchtbare Gefühl, die ganzen Autos von Polizei und Krankenwagen vorbeifahren zu sehen und nicht zu wissen, was los ist.

Später am Abend, ich schlafe schon fast, höre ich plötzlich die Fußballtröten, die die Securitys alle haben, um Alarm zu geben. Ich bin überrascht und ein bisschen aufgeregt; passiert jetzt was? In kurzer Zeit füllt sich die Arena mit mindestens dreißig Neons und etwa fünfzehn bis zwanzig stromern um den äußeren Bauzaun herum. Die meisten haben sich mit Stöckern aus dem Wald bewaffnet und manche von ihnen haben sich vermummt. Ich ziehe die Planen soweit zur Seite, dass ich in alle Richtungen kucken kann. Dann suche ich alle Seilreste zusammen, die ich finden kann und binde sie alle zusammen an das abgeschnittene Seil. Als ich mein Schweizer Taschenmesser benutze, um ein Seil gerade abzuschneiden, habe ich plötzlich ein Licht in der Hand und leise lachend stelle ich fest, ich bin ja doch nicht ganz ohne Lampe hier oben, denn das Messer, welches mir neulich beim Trampen geschenkt wurde, hat eine ganz kleine Taschenlampe. Nicht viel aber zumindest bin ich nun nicht mehr ganz der Dunkelheit ausgeliefert. „Ätsch“ denke ich.
Ich halte es zwar für unwahrscheinlich, dass Leute zu mir kommen wollen, um mir Sachen zu bringen, aber schließlich weiß ich es nicht. Mein Herz klopft, ich spüre die Nähe meiner Leute. Irgendwann lässt die Anspannung da unten nach und auch mein Herz beruhigt sich wieder. Die Grüße sind angekommen…

Nachricht aus Neuland #10
Ein Baum fällt

Donnerstag, 04.12.2014

Ich schlage die Augen auf und werfe einen Blick in den Himmel. Dämmert es schon? Ja. Langsam entwickelt sich das tiefe Dunkel der Nacht zu Tiefdunkelblau. Ich strecke mich, dann sehe ich, wie ein Polizeibus angefahren kommt. Dahinter ein Gefangenentransporter und einige weitere Polizeifahrzeuge. Für einen Moment bin ich überrascht, eigentlich kann es nur Räumung bedeuten, die Zeit stimmt, aber trotzdem schaue ich mich noch mal um, vielleicht hat sich ja unter mir etwas ereignet, was ich nicht mitbekommen habe. Sieht nicht so aus, ich bin erleichtert.
Also gut, eviction.
Gegen eine polizeiliche Räumung kann ich allein leider nicht viel ausrichten, zumindest habe ich noch nicht herausgefunden, wie. Ich seufzte und mache mich bereit. Der Versuch, das Handy anzumachen scheitert. Der Akku scheint restlos leer zu sein. Halb schmunzelnd, halb besorgt hoffe ich, dass das Ganze nicht unbemerkt von „meinen“ Leuten vonstatten geht.

Es braucht etwa 15 Minuten bevor es dann direkt um meine Person geht. Eine Frau in ziviler Kleidung mit Megaphon stellt sich unter den Baum und will mich darüber aufklären, dass nach Beschluss von irgendwelchen Leuten ich nun vom Baum runter geholt werden soll. Ich rufe, dass ich ganz gerne erst mal mit meinem Anwalt sprechen wolle. „Wir kommen zu ihnen hoch“, sagt sie durch das Megaphon. Fünf Minuten später kommt die Hebebühne dann hochgefahren. Geladen ist sie mit drei Kletterpolizisten. Wir wünschen uns einen „schönen guten Morgen“ und ich sage freundlich, dass ich ganz gern mal mit meinem Anwalt reden wolle und ob sie mir bei der Inanspruchnahme meines Rechtes freundlicherweise behilflich sein könnten, da mir sozusagen die Hände gebunden seien. Mit einem Kopfnicken deute ich dabei auf die V-geformte Metallröhre, die sich wie ein Wunder um meine beiden Arme gelegt hat, welche um einen Ast der alten amerikanischen Eiche geschlungen sind und ich lächle entschuldigend. Ich bin an den Baum gekettet. Die Cops kichern und einer fragt: “Wie bist du denn da ran gekommen?“ und ich antworte: „Weißt du, ich weiß es nicht! Heute morgen bin ich aufgewacht und da war das auf einmal so. Vielleicht werd ich so langsam eins mit dem Baum…“. Die drei lachen und einer sagt: „Das ist doch gelogen, Pinoccio!“ „Aber nein, aber nein!“ beteuere ich mit großen Augen und verstecke meine Nase unter der Decke.

Die drei machen sich daran, meine Höhle abzureißen. „Dach“ und „Wände“, sprich die Planen, werden abgenommen. Der eine sichert sich mit seinem Kletterequipment in der Eiche. Ich kooperiere insoweit, als dass ich ihnen über sicherheitsrelevante Fragen klare Auskunft gebe. Am Boden sehe ich viele Menschen mit Kameras, die Hälfte von ihnen trägt Polizeiuniform. Die Gerichtsvollzieherin kommt noch mal, zückt ihr Smartphone und richtet die Linse ebenfalls auf mich.
Die zwei, welche sich noch in der Hebebühne befinden, fahren noch mal runter, da etwas fehlt und der eine Cop, der da noch so abhängt, und ich plaudern ein bisschen. Ich erkläre ihm, wieso ich nicht einfach so hinnehmen kann, was hier passiert. Teilweise gibt er sich verständnisvoll aber manchmal argumentiert er auch dagegen. Ich erzähle ihm auch von meiner Zeit hier oben. Immer wieder muss ich meine (körperliche) Position ändern, weil es auf die Dauer unangenehm wird, mit den festgemachten Armen. Dass muss ziemlich witzig aussehen, weil ich noch in den zwei Schlafsäcken stecke und hab weder Arme noch Beine frei. Ich fühle mich wie eine Raupe. Noch dazu mache ich komische Geräusche wenn ich mich bewege. Ich kann dem Cop nicht übelnehmen, dass ihn das amüsiert, ich muss ja selbst schmunzeln bei dem Gedanken, wie das wahrscheinlich aussieht. Als die anderen zwei nach etwa 10 Minuten wieder hochkommen, fragt der eine scherzhaft: „Na, läuten da schon die Hochzeitsglocken?“ Ach herje…denke ich und lasse das unkommentiert, weil mir nix darauf einfällt. Der „Neue“ macht sich auf der anderen Seite, näher bei mir, im Baum fest und hängt dann so rum. Sie entfernen die letzten Stücke der Planen und fangen dann an, die Taschen und Wasserkanister und eigentlich alles, was nicht direkt an mir dran ist (wie zum Beispiel mein persönlicher Rucksack) auf die Hebebühne zu verladen und dann runter zu bringen. Während die sich da unten organisieren, unterhalten Mu (so heißt der erste), der andere Klettercop und ich uns eigentlich ganz nett. Die Klettercops sind in der Regel erträglich, sie sind weniger auf Stunk und Einschüchterung aus, als mehr darauf, dass die ganze Situation reibungslos und ohne Unfälle verläuft, denn dann sähen sie alt aus. Der eine, der näher bei mir in den Seilen hängt, spricht mich immer mit unterschiedlichen Namen an, weil ich mich natürlich, ebensowenig wie er, nicht vorgestellt habe. Ich bitte ihn, meinen Rucksack, den er zuvor etwas gelöst hatte, in der Hoffnung ihn mir abnehmen zu können, wieder enger zu schnallen. Auf einer Seite klappt dass auch, an die andere Seite kommt er nicht ran. Dann bitte ich ihn auch meine Mütze wieder etwas zu richten, weil mir schon überall die Haare im Gesicht hängen. Auch den Gefallen tut er mir.
Als der Korb der Hebebühne wieder hoch kommt, sind zwei neue dabei. Der eine trägt Arbeitskleidung, die ich nicht so recht zuordnen kann. Vielleicht ist er von der Forstbehörde oder so ähnlich, um den Baum zu checken…? Außerdem eine Polizistin. Sie ist freundlich und sagt, wie es nun weitergehen soll. Sie will das Metallrohr aufflexen und dann mal rein schauen. Bevor sie loslegt, frage ich sie, ob sie so freundlich wäre, mir den Rucksack auf der anderen Seite enger zu schnallen. Nachdem sie das getan hat, schiebt sie Metallschienen von beiden Seiten in die Armröhren, um meine Arme zu schützen. Sie legen eine Brandschutzdecke zwischen mich und den Baum, dann beginnt sie zu flexen. Ich soll Bescheid geben, wenn sie stoppen soll und dass tue ich mehrmals um meine Position zu ändern, wodurch sich auch immer ihre Arbeitsmöglichkeiten ändern. Während sie hier oben an meinem Lock-on arbeiten und da unten der Harvestor beindicke Bäume einfach abknipst wie ein Nagelknipser, überkommt mich eine dunkle Schwermut. Wenn sie mich hier in Kürze los gemacht haben, wird dieser Baum auch gefällt werden. Und alle anderen Bäume drumherum auch. Dann steht kein Einziger mehr hinter der ehemaligen Hambachbahn.

Sie hielt mich sicher und ich blieb standhaft für Sie. Ohne Sie nicht ich und ohne mich nicht Sie…

Sie brauchen länger, als ich es vermutet hätte, denn es ist bloß blankes Metall. Manchmal schießen die Flexfunken an der Röhre vorbei auf meinen Bundeswehrschlafsack. Zum Ende hin wird es warm in der Röhre und als ich es sage, haben sie das Metall schon soweit durch, dass sie ins Innere blicken können. Aber sie kommen noch nicht ganz rein. Sie sprechen darüber, hier aufzubiegen oder da noch mal zu flexen und letzten Endes muss doch noch mal die Flex ran. Nach insgesamt ca. dreißig Minuten setzt sie den Bolzenschneider an und…kriegt das Schloss nicht durch, weil der Bolzi zu klein ist. Der andere allerdings ist zu groß und fast wären sie noch mal runter gefahren, um was Anderes zu besorgen, da klappt es dann doch mit dem kleinen Bolzenschneider. Langsam ziehe ich meine Arme aus der metallenen Ummantelung. Ich weiß erst mal gar nicht, wohin mit dem wiedergewonnenen Gliedern. Sie sind ein bisschen steif aber es geht. Die Hebebühne fährt runter, um die anderen beiden auszuladen. Währenddessen bequatscht mich der eine, dessen Namen ich ebenso wenig kenne wie er meinen, dass der Korb gleich wieder hochfahren würde und ich dann da einsteigen könne, um mich nach unten bringen zu lassen. „Naja, also, von allein werde ich da aber nicht reingehen, ist dir das bewusst?“ erkläre ich. Er stöhnt und für einen Moment habe ich das Gefühl, das Blatt würde sich jetzt wenden. „Boa ne, dass ist nicht dein Ernst, oder?“ und bevor er sich weiter beschweren kann, erkläre ich ihm ernst, dass das zu meiner Aktion und ihrem Job dazu gehöre. Dann kommt die Hebebühne wieder hoch gefahren, der Fahrer ist ebenfalls nicht begeistert, dass ich nicht kooperieren werde aber als sie mich in den Korb buxieren, scherzen sie schon wieder. Der eine fragt durchs Funkgerät, ob sie die Plattform hier oben dann abmontieren sollen oder sie den Baum so fällen wollen. Der Baum soll so gefällt werden.

Während wir gen Boden fahren, sehe ich viele Menschen: Polizist_innen in Uniform, Sanitäter_innen, Menschen mit Kameras, von RWE kann ich auch manche ausmachen und viele Neons, die gespannt die Hälse recken, um einen Blick auf diese Person zu erhaschen, die ihnen unter anderem diese unübliche Zeit beschert hat. Vielleicht haben ja ein paar mehr den Blog gelesen…
Ich werde aus der Hebebühne auf eine Trage verfrachtet, dann werde ich zu dem Rettungswagen gebracht. Bevor sie mich langsam hineinschieben, wie einen Braten in den Ofen, lächle ich die Umstehenden an und winke den Neons zu: „Bis demnächst, Leute!“. Einige lächeln und der ein oder andere nickt mir zu. Auch der eine Ältere mit dem würdevollem aber herrischen Gang, welcher immer langsam mit einem großen Knüppel, den er als Art Spazierstock nutzte, um die Arena stolzierte und von vielen anderen scheinbar als Autorität wahrgenommen wurde, steht in meiner Nähe und schaut zu, wie ich verladen werde. Ich habe ihn manchmal mit „Hallo Chef“ gegrüßt und irgendwann hat er angefangen, mir daraufhin zuzunicken. „Tschüss Chef“ grinse ich ihn an und er kann kaum verbergen, wie sich der linke Mundwinkel hebt und er nickt mir zu und schaut weg. Dann schließen sich die Türen des Rettungswagens. Ein freundlicher Mann schüttelt mir die Hand und stellt sich vor. „Leitender Arzt“ lese ich auf seiner Jacke. Er stellt mir ein paar Fragen, wie lang ich dort oben gewesen sei und wie es mir ginge. Ich erzähle, dass es mir körperlich soweit gut ginge, ich noch nichts gegessen habe und sehr durstig sei. Mir wird versichert, ich bekäme gleich etwas. Sie schneiden die Handfesseln los, mit Hilfe derer ich in dem metallenen V-Rohr fest gekettet war. Der leitende Arzt entschuldigt sich mehrmals, weil er zwei kleine Löcher in mein läng ärmeliges Shirt schneidet. Ich lache und deute auf meinen heruntergekommenen Pullover. Darum solle er sich keine Gedanken machen, solang das Ding seine Funktion erfüllen kann, sei das doch egal. Sie testen meinen Blutdruck, meine Temperatur und picksen mir in den Finger, um mein Blut zu testen. Alles einwandfrei. Dann kommt die Gerichtsvollzieherin herein. Sie lächelt mich an und legt mir einen Haufen Papiere vor die Nase. Der Räumungsbeschluss ist geschätze zehn Seiten dick, die Unterlassungsverfügung vielleicht dreißig oder mehr. Sie verabschiedet sich und der leitende Arzt kommt noch mal herein. Er fragt, ob ich die Handfesseln eigentlich behalten wolle und ich sage, bevor sie weggeschmissen würden schon. „Oder wollten sie die haben? Sie können die hier haben!“, sage ich und halte ihm die eine Fessel entgegen und er freut sich richtig. „Freundschaftsbänder wie?“ scherzt der eine der zwei anderen Sanitäter, die noch in dem kleinen Raum stehen. Der Arzt und ich grinsen uns an, schütteln uns die Hände und er geht.

Der Krankenwagen holpert über den Waldboden. Die zwei Sanitäter die noch bei mir sind, sind nicht so gesprächig aber auch nicht unfreundlich. Das Fahrzeug hält an, mein Rucksack mit persönlichen Sachen wird nach draußen befördert und einer der Sanis wird durch einen Typen in Polizeiuniform ausgetauscht. Ich erinnere noch mal an das Wasser. Ich würde gleich was bekommen. Dann geht es noch ein kleines Stück weiter. Als das Rettungsfahrzeug anhält, die Türen sich öffnen und die Trage mit mir darauf raus geschoben wird, finde ich mich in einem Zirkel aus Polizeibussen und mehreren Cops wieder. Ich werde aufgefordert aufzustehen und mich in den Gefangenentransporter zu begeben. Seit wann noch mal läuft der Knochen zum Hund? Naja, ich erkläre ihnen wieder sachlich, warum ich nicht kooperieren werde. Großes Gestöhne und ein paar beleidigende Worte, die an mir abperlen. Ich kenne ihr Spiel und für sie sollte es nichts Neues sein, was ich tue. Ich werde grob an allen Vieren gepackt und zum Gefangenentransporter getragen. Der Stapel Papier, den die Gerichtsvollzieherin mir in den Schoß gelegt hat, fällt dabei auf den schlammigen Boden. Ich werde in die winzige, vielleicht 80×100 cm große Zelle des Gefangenentransporters geschoben wie ein Sack Kartoffeln. An meiner Hüfte ratscht ein bisschen Haut ab. Dann wird die Tür verriegelt. Ich setze mich auf die Sitzbank, dann brummt der Motor. Durch ein kleines Fenster sehe ich wenigstens, wo wir lang fahren. Als wir über die Brücke fahren sehe ich zwei Aktive, die sich an das Tor gekettet haben. Leider können die Fahrzeuge an der Blockade vorbeifahren. Dann geht es nach Düren. Sie fahren einen großen Umweg.

An der Polizeistelle in Düren angekommen steigen die zwei Cops aus dem Fahrer_innenhäuschen und ich höre sie sagen: „So, wir bringen hier eine, mit der gibt’s n kleines Problem. Die kann nicht gehen“ „Wie, kann nicht gehen?“ fragt eine andere Stimme. „Ja, die will nicht.“ Dann wird die Tür meines kleinen Gefängnisses aufgeschlossen und eine junge Polizistin schaut zu mir rein. „Du willst nicht gehen?“ „Ja weißt du, es gehört halt zu meiner Aktion noch mit dazu. Ich kann ja sonst nicht viel machen…“ sage ich mit einem entschuldigendem Lächeln. „Ich kanns ja irgendwo verstehen…“ sagt sie und lächelt auch. Dann schaut ein anderer ebenfalls junger Cop zu mir rein und rollt mit den Augen: „Man, das ist doch Kinderkacke!“ Ich erwidere nichts darauf, denn ich weiß, er will, dass ich mir doof vorkomme und mich einschüchtern, sodass ich doch selber gehe. Daher macht es mir nicht viel. Er packt mich an den Armen und zerrt mich aus der Zelle und aus dem Wagen. Meine Fußknöchel werden ebenfalls ergriffen und mit dem Rücken nach oben werde ich in das Gebäude gebracht.

Zelle 6. Sie legen mich auf die Schaumstoffmatratze, die „nettere“ Polizistin ist auch dabei und bringt ein bisschen Ruhe in die Situation. Ich spreche sie noch mal gezielt an und bitte darum, etwas zu trinken zu bekommen, da ich seit heut morgen nichts getrunken hätte. Sie nickt mir zu und sagt, sie kuckt mal, dass ich was bekomme. Dann wird die Zelle leerer bis auf zwei Polizistinnen, einer kleinen, strengen und einer etwas größeren, beleibten, die etwas unerfahren oder unsicher wirkt. Die Tür wird angelehnt und während sie sich die Latexhandschuhe über die Hände ziehen, sprechen sie darüber, wer mich wie auszieht. Während sie mir die Klamotten vom Leib zerren, lese ich vor mir „Hambi Chaos Crew“, eingeritzt in den Lack der Zellentür. Das Grinsen, welches sich auf meinen Lippen ausbreitet, kann und will ich gar nicht verbergen. Ich fühle mich ein bisschen weniger allein.

Schließlich liege ich nackt auf der Liege. Ich habe mit mehr Beschimpfungen und verächtlichen Worten gerechnet aber es wird sich nur einmal beschwert, dass ich etwas streng riechen würde. Meine letzte Dusche ist immerhin 8 Nächte her. Ich gebe darauf zur Antwort, dass sie das ändern und mich einfach unter die Dusche stecken könnten. Doch das wird abgelehnt. Na gut, denke ich, nicht mein Problem, ich kann auch später duschen.
Die kleinere und unfreundlichere der beiden deutet auf den Haufen meiner Unterbekleidung und sagt, wenn ich nicht so zur ED-Behandlung gebracht werden wolle, könne ich das schon mal wieder anziehen. Während ich erst mal alles wieder auf rechts drehen muss, erklärt sie mir, was nun passieren soll. Ich höre geduldig zu und sage dann ruhig: „Alles klar, aber zu allererst einmal möchte ich mit meinem Anwalt telefonieren.“ Damit bricht eine bestimmt 3 minütige Debatte darüber aus, ob ich nun das Recht habe, einen Anwalt anzurufen oder überhaupt irgendwen, oder nicht. Ich bin überrascht, wie stur sie dabei bleibt, dass ich kein Recht darauf habe, denn eigentlich hat dieses Recht jeder Mensch, der festgenommen wird. Aber Rechte und Gesetzte sind halt auch nur Schall und Rauch und scheinbar beliebig anwendbar für angebliche Machthabende. Daher führe ich die Diskussion eigentlich nur theoretisch und habe gar keine Erfolgserwartungen. Zwischendurch ist sie sogar soweit, dass sie sagt, dass sie den Anwalt für mich anrufen würden aber das nehme ich nicht an, denn woher sollte ich zum einen wissen, ob sie’s dann auch tun und zum anderen kann ich es dann genauso selbst tun, wie es mir (angeblich) zusteht.
Sie geben mir nur meinen Pulli zurück, dann schließt sich die Zellentür. Fünf mal dreht sich der Schlüssel im Schloss.
Die Wände des Raumes sind vollständig gefliest, in etwa zwei Metern Höhe gibt es ein Fenster mit Milchglasscheiben und Gittern davor. Die Zellentür ist Cobaldblau lackiert. Ich hasse diese Farbe. Es stehen ein paar Sachen eingeritzt in der Tür. „No Justice, No Peace – Paint the Police“
Die Liege ist ein Holzklotz und ich sitze auf der Schaumstoffmatratze auf ihr. Auf dem Boden ist ein Fleck aus längst vergangenen Tagen, ich will gar nicht genauer wissen was da aus wem herausgetreten ist.
Ich stehe auf und klopfe gegen die Tür. „Was ist los?“ „Ich hätte ganz gerne etwas Wasser, denn ich hab seit heute Morgen nichts mehr getrunken.“, rufe ich durch das schwere Metall. Ich vertreibe mir die Minuten mit Dehnübungen. Es tut gut, mich wieder mehr bewegen zu können.
Dann wird die Zellentür aufgeschlossen und ein Polizist steht mit zwei Plastikbechern mit Wasser vor mir, hinter ihm mache ich noch eine Person aus. Endlich! Ich bedanke mich und trinke durstig ein paar Schlucke. Bevor sich die Tür wieder schließt, sage ich freundlich: „Und ach, ich würde gerne mit meinem Anwalt telefonieren.“ „Alles klar, ich kuck mal, was sich machen lässt.“, antwortet er neutral. Er scheint nichts von der Diskussion zuvor mitbekommen zu haben. Hinter der wieder verriegelten Tür höre ich ihn dann beim Weggehen sagen: „..und die Dame möchte noch mit ihrem Anwalt reden…“ Dann bin ich ja mal gespannt. Ich setze mein Dehnprogramm fort und probiere auch ein paar Kraftübungen aber merke schnell, ich habe nicht genug Energie und bleibe deshalb nur beim ausführlichen Dehnen.

Als ich etwa fünf Minuten später gerade meine Beine strecke, höre ich, wie die Tür erneut aufgeschlossen wird. Der Polizist von zuvor fragt, ob ich noch mehr trinken wolle und hält mir einen weiteren Plastikbecher, gefüllt mit Wasser, entgegen. Ich unterbreche die Übung, nehme dankend an und bevor er die Tür wieder schließt, sagt er noch, dass ich dann gleich mit meinem Anwalt sprechen dürfe. Na mal sehen.

Ich fahre fort und als ich etwa zehn Minuten später gerade im Stand meine Fußknöchel halte, höre ich wieder das Türschloss. Als es sich öffnet und ich beschuhte Füße auf der Schwelle sehe, richte ich mich auf. Ein Mann in buntem Hemd steht vor mir. Ich überrage ihn um etwa einen Kopf. Er gibt sich sehr freundlich und lächelt immerzu, während er mir erklärt, sie würden nun eine Erkennungsdienstliche (ED) Behandlung mit mir machen, um meine Identität festzustellen und dann könne ich gehen. Ich lächle ihn an und sage, dass ich damit nicht einverstanden sei, Widerspruch einlegen würde und gerne zuerst mit meinem Anwalt reden wolle. Sein Lächeln ist in seinem Gesicht festgeklebt und er sagt, den Widerspruch habe er zur Kenntnis genommen und dass ich mit meinem Anwalt ja nicht reden könne, wenn sie gar nicht wüssten, wer ich sei. Ich erwidere freundlich, dass das auch gar nicht nötig sei, um mit meinen Anwalt zu sprechen. Er geht aus dem Raum und sagt währenddessen, ich könne danach mit meinem Anwalt reden und jetzt erst mal mitkommen. Ich bleibe stehen, lächle und sage, dass da bloß noch die Sache mit dem „nicht gehen“ wäre. Einer der Umstehenden stöhnt auf und sagt: „Das darf doch wohl nicht wahr sein…“ doch der Kleine gibt sich gelassen und sagt, das sei ja überhaupt kein Problem und ich stimme ihm zu. Sie packen mich an den Armen, der eine verdreht mir das Handgelenk und ist viel schneller, als der Kleine. „Hey hey, dein Kollege kommt ja gar nicht hinterher!“ sage ich mit einem Lachen und auch der Kleine plädiert dafür, dass er nicht so schnell gehen solle. Sie schleifen mich an den Armen durch den langen, grauen Flur, mein Pullover verdeckt zumindest noch meine Brust. In einem Raum werde ich abgelegt. Ich lege die Beine übereinander und verschränke die Hände gelassen auf dem Bauch. Der Kleine plaudert vor sich hin, während er mir zuerst mit einem Feuchttuch und dann mit einem Stück Küchenrolle die Fingerspitzen putzt. Ich wundere mich ein bisschen, was das bringen soll, sage aber nichts. „Na, die Maniküre ist auch langsam wieder fällig.“, sagt er beiläufig „Ach, legen sie da so viel Wert drauf? Mir ist das nicht so wichtig. Wenn ich jeden Tag mit anpacke, hab ich da gar keine Zeit für…“. Er wendet sich mir wieder zu und will sich gerade neben mich auf den Boden hocken. Das elektrische Fingerabdruck-Abnahmeteil steht schon bereit. Ich rolle mich gemächlich auf den Bauch und meine Arme. Auf einmal legt sich bei dem Kleinen ein Schalter um. Von einem Moment auf den anderen brüllt er mich an, dass hier seine Toleranz am Ende sei und er auf so etwas gar keine Lust habe. Auch die kleinere Frau, welche mich zuvor ausgezogen hat, steigt direkt mit ein. Sie kniet sich in meinen Rücken und fixiert meinen Kopf am Boden mit den Händen, der kleine Mann stemmt sein Knie auf meinen Oberarm und verdreht ihn mir so, dass ich ihn kaum noch bewegen kann. Meine Beine werden gegen den Tisch gepresst. Das geschieht innerhalb weniger Sekunden. Ich presse ein Lachen und: „Das ging ja schnell!“ heraus, bezogen auf das Ende seiner Toleranz. Während der Kleine an meinen Fingern zerrt, um einen von ihnen auf das rot leuchtende Kästchen zu quetschen, schimpft er: „Es sind immer die Frauen bei euch! Die Männer sind alle immer ganz unproblematisch aber die Frauen!“ Ich lache überrascht auf, denn ich weiß, das ist Bullshit und sage das so ähnlich. Immer wieder schaffe ich es, den Finger um einige Millimeter zu verschieben. Das macht ihn rasend. Nach wenigen Minuten steht er auf, um sich die Bilder auf dem Computer anzuschauen. Ich versuche ein bisschen Anspannung, da wo sie nicht gebraucht wird, abzuschütteln und mich nicht zu bewegen, um meine Kräfte zu sparen. Außerdem drückt die kleine Frau auf mir nur noch fester zu, wenn ich mich bewege. Ich höre den Kleinen verärgert und angestrengt schnaufen. „Die hat da irgendwas drauf. Die kannste alle vergessen!“, sagt der, der die ganze Zeit vor dem Bildschirm sitzt. Doch der Kleine gibt noch nicht auf. Als er sein Knie wieder auf meinen Oberarm stemmt, hat er eine Schere in der Hand. Er steckt meinen Zeige- und Mittelfinder durch die Schlaufen und will durch die Hebelwirkung auf die Fingergelenke erzwingen, dass ich sie nicht mehr bewegen kann. Doch das nützt ihm wenig, denn ich kann meine Finger dennoch bewegen, dazu kommt mir zugute, dass meine Hände feucht vom Schweiß sind und somit noch rutschiger. „Naja, nen Versuch wars wert wie?“ necke ich ihn keuchend und von allen Seiten werde ich dafür noch mehr in die Schraubzwinge genommen. Ich stöhne auf vor Schmerz, den ich erwartet habe. Er versucht es unerbittlich, doch der Mann hinter dem Computerbildschirm stellt ihn vor die Tatsachen der Situation: „Das bringt’s nicht. Die hat da irgendwas drauf. Komm, lass es. Macht Fotos und dann ist gut.“ Der Kleine steht erneut auf und schaut sich das Produkt seiner verzweifelten Mühen an. „Warum nehmt ihr nicht einfach die DNA?“ „Dürfen wir nicht.“ schnauft der Kleine durch (ich vermute) zusammengepresste Lippen. Ein letzter, verzweifelter Versuch: Er kommt mit der guten alten Tinte und – einem Stück Küchenpapier?! Will er darauf etwa meine Fingerabdrücke pinseln? Naja, lass ihm den Versuch. Mit einer Rolle macht er meinen Mittelfinger schwarz, doch wieder gelingt es mir, den Finger zu verdrehen. Nun gibt er auf. Sie lassen von mir ab. Langsam richte ich meinen Oberkörper auf und fühle meinen Arm. Er schmerzt da, wo der Kleine sich reingestemmt hat. Doch soweit: Punkt für mich. Ich schöpfe neue Energie aus dem eben gewonnenen Kampf. Dann geht es weiter. Auf in die zweite Runde: Fotos. Ich werde auf einen Stuhl gepackt, auf dem ich nur halb drauf hänge, denn nun konzentriere ich mich darauf, meinen Körper so gut es geht zu entspannen. Ich lasse meinen Kopf auf die Brust sinken, doch er wird hinten an den Haaren nach oben gerissen und einige Strähnen werden mir aus dem Gesicht gehalten. Ich ziehe komische Grimassen, als ginge es um alles. Die Augen kneife ich zusammen. Der Stuhl wird gedreht und nach einer halben Minute noch mal. Rechtes Profilbild, frontal, linkes Profilbild. Dann wird auch diese Aktion für beendet erklärt. Als ich vorsichtig die Augen öffne, sehe ich verschwommen, mir ist ein bisschen schummrig. Ich stehe auf, wanke ein bisschen und versuche wieder die Gelassene zu spielen. Ich nehme mehrere Zuschauer_innen wahr, doch richtig sehen tue ich sie nicht. Die kleine Polizistin schiebt mich an zwei sehr großen Männern vorbei, die mich wortlos anschauen. Beide tragen eng anliegende Mützen und lange Mäntel. Ich spüre ihre Blicke im Rücken, als ich aus der Tür hinaus und durch den Gang entlang zurück zu meiner Zelle 6 geschoben werde. „So, du kannst dich jetzt anziehen und dann bin ich froh, wenn du hier weg bist.“ Sagt die kleine Frau, die schräg hinter mir läuft und ihre Finger in meinen Rücken bohrt. Inzwischen sind wir an der Zelle angekommen, vor der alle Taschen, Schlafsäcke und sonstiger Kram von der Plattform, welche es mit Sicherheit schon seit einiger Zeit nicht mehr gibt, aufgetürmt liegen. Ich drehe mich zu ihr um, blicke ihr sehr ernst in die Augen und sage: „Wissen sie, ich mache das alles hier nicht zum Spaß. Denken sie etwa, ich werde hier gerne misshandelt?! Nein. Ich mache das ganz und gar nicht zum Spaß. Ich meine es sehr, sehr ernst mit dem, was ich tue!“ Meine Stimme wird etwas lauter, als ich das sage und Zorn wallt in mir auf. Ich nehme mir meine Kiste mit meinen restlichen Klamotten, gehe in die Zelle und lasse sie stehen. Während ich mich nun auch obenrum vollständig anziehe, lasse ich mir nicht mehr und nicht weniger Zeit, als ich brauche. Ich kämpfe innerlich mit der aufkommenden Wut und versuche, cool zu bleiben. Eine kleine Wunde am Knöchel der rechten Hand ist wieder aufgerissen worden und blutet. Sie, zu der ich eben gesprochen habe, steht in der Tür, bewacht mich, bis ich fertig bin ohne ein Wort zu sagen. Ich lasse die weiße Kiste in der Zelle stehen und stelle mich dann vor den Haufen. Wo fang ich da an? Ich stopfe ein paar lose Sachen
in irgendwelche Taschen. Die Ausgangstür steht bereits offen für mich. Ich nehme zwei Taschen und ein anderer und sie packen mit an und verfrachten die ganzen Sachen vor die Tür. Dann warten sie darauf, dass ich alles wegbringe. Irgendwer drückt mir einen Zettel in die Hand, ich höre nicht, was er sagt, denn ich bin in mir drin mit meinen Gefühlen am kämpfen. Ich schmeiße den Zettel zu dem anderen Papierkram, ohne irgendwen anzuschauen. Als ich die ersten Taschen zum Tor bringe, spüre ich einen Kloß im Hals. Niemand ist da und halb bin ich froh darüber, nun nicht mit so vielen Leuten umgehen zu müssen, auch wenn es meine Leute sind, halb macht es mich noch trauriger. Als ich zum zweiten Mal zurück zum Polizeigebäude gehe, den einen Schlafsack in seine Hülle stopfe und dabei alles voll blute, fragt sie ihren Kollegen, ob es nicht irgendwo Pflaster geben würde. Ich halte ein KFZ-Erste Hilfe Set in die Höhe, ohne wen anzusehen und zische: „Die Mühe können sie sich sparen.“ Als ich erneut in Richtung Ausgangstor, bepackt mit Sachen, gehe, kommen mir die ersten Tränen. Ich ärgere mich darüber, weil ich mich so verletzlich fühle, als sie es beim nächsten Gang sehen. Doch später ist es mir egal und ich denke, es ist gut, dass sie die Wunde sehen, die sie hinterlassen haben. Dann stehe ich wieder am Ausgangstor und da springen zwei Leute, die ich sehr, sehr gern habe, aus einem Auto und begrüßen mich stürmisch. Die eine schließt mich in die Arme und ich versinke darin und in einem Meer aus Tränen. Ich strecke einen Arm nach Basti aus, der die zweite Person ist. Er schmiegt sich an uns und so stehen wir eine kleine Ewigkeit vor der Einfahrt der Polizeistelle Düren. „So schön, dass du raus bist…“ murmle ich Basti ins Ohr. „Schön, dass wir dich wieder haben.“ erwidert er.

Das Ende vom Anfang

Als wir uns voneinander lösen, trägt die kleine Polizistin und der andere gerade die letzten Sachen vor das Tor. Wir räumen alles ins Auto und fahren dann in ein Hausprojekt. Auf dem Weg kann ich meine Tränen immer seltener zurückhalten. Meine Hand wird gehalten und gestreichelt und die Nähe geliebter Menschen fühlt sich unfassbar großartig an. In dem schäbigen Haus riecht es wunderbar nach Essen, wonach mir absolut nicht zumute ist. Ich werde von einigen lieben Menschen herzlich empfangen. Ich äußere den Wunsch, erst einmal zu duschen, bevor ich erzähle.

Allein in dem kalten Badezimmer, fließen mir die Tränen über die Wangen. Ich weiß schon gar nicht mehr, ob ich gerade aktiv weine oder es noch die Tränen von eben oder davor sind. Als ich mich ausziehe, spüre ich die Kälte kaum und betrachte meinen rechten Arm. Er ist geschwollen und rot. Unter der Dusche braucht das Wasser einen Moment, bis es warm wird. Als es mir in Strömen über das Gesicht läuft, mischt es sich mit den Tränen, der immer öfter aufkommenden und unkontrollierbaren Heulkrämpfe. Nein! Ich mache das alles ganz und gar nicht aus Spaß! Ich habe mir die ärmlichen Verhältnisse ausgesucht, weil es mir lieber ist, so zu leben, als in dieser riesen großen Lüge da draußen, die so viele arme Seelen zerfetzt und verschlingt und nach noch mehr Blut und Geld dürstet. Niemals satt, bis es nichts mehr gibt. Es ist eine Sucht, der die Menschen nacheifern, wie Rauchen- im Prinzip. Alle wissen, dass es schädlich für die einen, die Konsumierenden und tödlich für die anderen, die produzierenden Arbeiter ist, doch alle paffen weiter, als sei es das großartigste der Welt.
Ich fühle mich verletzt und misshandelt, doch ich weiß, ich habe alles gegeben und meine Würde behalten und werde somit über alles hinweg kommen. Mir war immer bewusst, in was für eine Situation ich mich begebe und was mit mir hinter den Türen der Polizeiwachen gemacht werden würde und gemacht werden könnte. Genug Menschen, die von Polzei misshandelt werden, tragen traumatische Folgen fürs Leben davon, vor allem wenn sie sich hilflos gefühlt haben. Um das zu vermeiden und sowieso, um den Kampf bis zuletzt zu führen, habe ich die Coole, Gelassene gespielt. Denn es wird nur schlimmer, wenn du weinend am Boden liegst und darum bittest, sie würden aufhören. Denn dann haben sie dich da, wo sie dich haben wollen.

Meine liebe Freundin klopft an die Tür und will sich meine Verletzungen anschauen, denn sie ist Sanitäterin. Alles nichts Ernstes, auf die Wunde am Fingerknöchel kommt ein Pflaster und der Arm wird blau werden. Die äußerlichen Schrammen sind halb so wild. Sie nimmt mich in den Arm. „Ich hab dich lieb. Du bist doch so was wie meine große Schwester.“ flüstert sie. Sie lässt mich noch mal allein.
Ich habe meinen Rucksack auf der Suche nach sauberen Socken komplett geleert, denn auf der Wache haben sie alles durchsucht und ein einziges Chaos hinterlassen. Nun sitze ich davor und es fällt mir schwer, alles wieder einzuräumen. Ich fühle mich entkräftet.
Ich höre zwei vertraute Stimmen hinter der Tür, die freudig meinen Namen rufen. Ich freue mich sie zu hören, bin aber noch nicht soweit, die Tür zu öffnen.
Als ich es wenige Minuten später dann tue, sinken wir uns wortlos in die Arme. „Ich hab was für dich“ sage ich leise und drücke ihm das Stück Rotbuche in die Hand, in das ich „T’estimo“ geschnitzt habe. Ich liebe dich.

Ich fühle mich noch immer sehr schwach und labil aber die Gespräche mit einigen Menschen geben mir wieder etwas Energie.

Ich lese die Kommentare, die ich noch nicht kenne. Wow! Noch mehr Energie! Langsam komme ich wieder zu mir, wie nach einer Ohnmacht.

Ich telefoniere mit meiner Mama. Energieschub Nummer Drei.

Als wir auf der Wiese ankommen, ist es grade dunkel geworden. Einer der Hunde, mit dem ich mich besonders gut verstehe, springt mich unerwartet an und bringt mich fast zu Boden, weil ich lachen muss und mich so freue.
Ein kleines Mädchen, 5 Jahre alt, kommt auf mich zugelaufen und schließt mich in die Arme. Wir machen den „Eskimo-Kuss“, Balsam für meine Seele.
Ein paar andere begrüßen mich strahlend und die Kleine nimmt mich an die Hand und mit den viel zu großen Gummistiefeln an ihren kleinen Füßen watscheln wir Richtung Küche. „Ich habe „Halt Bagger halt, wir bleiben im Wald!“ zu ihnen runter gerufen und an dich gedacht“ sage ich zu ihr. „Mein Spruch!“ freut sie sich.
Wir gehen ins Warme, ich begrüße alle Anwesenden und gehe kurz darauf wieder..allein. Ihr, der Kleinen, war kalt. Ich wünschte, die Kleine hätte mich noch etwas länger an der Hand geführt.
Für einen Moment komme ich mir ein bisschen einsam vor, doch da stürmen schon zwei andere geliebte Menschen auf mich zu. „Warte, warte..“ sagt die eine, nach einer endlosen Umarmung klappt sie ein Plakat auseinander auf dem steht: Welcome home. Willkommen zuhause.
Ich liebe euch!
Ich werde in die Küche geführt und jemand am Herd jammert, dass das Essen ja noch gar nicht fertig sei. Wiesenkost. Ich liebe es. Ich esse und wir überschlagen uns mit unseren Erzählungen.

Als wir später zu zweit im Bett liegen, erzähle ich zum ersten Mal heute über einige Details der Misshandlung auf der Wache. „Darf ich dich grade mal in den Arm nehmen?“ Ja! „Ich weiß, das klingt doof aber: Danke dass du’s machst…“

Nach einer unruhigen aber schönen Nacht, in der ich oft aufgewacht bin aber zum Glück nicht allzu schlecht geträumt habe (ich bin wieder auf der Plattform und einer der Klettercops hält mir ein leeres Weinglas entgegen und fragt, ob ich das noch haben wolle…), wache ich früh morgens mit Kopfschmerzen auf. Wow, so fühlt sich das also an. Ich habe nie Kopfschmerzen. Später am Tag lassen die Kopfschmerzen nach, dafür tut mir der Bauch dann `ne ganze Weile weh. Diese Bauchschmerzen habe ich noch zwei-, dreimal später in der darauffolgenden Woche. Ich verdaue die Räumung.

Während ich diesen Bericht schreibe, fließen wieder Tränen und ich habe geschwitzt. Doch während ich diese letzten Worte schreibe, schließe ich nicht nur einen langen Bericht schwarz auf weiß ab, sondern auch das kleine Kästchen in meinem Kopf, in das ich die Erinnerungen und Gefühle nun fein säuberlich gelegt habe und jederzeit rausholen kann wann ICH will.

Nachwort
Ich habe mir die Mühe, das alles aufzuschreiben, nicht gemacht, um mitleidige oder aufmunternde Worte zu erhaschen oder als Heldin diffamiert zu werden. Wie oben zu lesen sind da viele Arme und Worte, die mich aufgefangen und gehalten haben und mit dem Held_innenbegriff kann ich nicht viel anfangen. Dass klingt, als müsstest du besondere Fähigkeiten haben, um dich zu bewegen. Ich kenne so viele auf dieser Welt, die vergleichbare und noch viel spannendere, mutigere, krassere, sinnvollere und schmerzhaftere Aktionen reißen und Erfahrungen machen! Es ist traurig, dass Menschen überhaupt soweit gehen müssen, sich in solche und andere gefährliche Situationen begeben müssen, um Widerstand zu leisten und andere Menschen aufzuwecken. Aber wenn es klappt habe ich es umso mehr gern gemacht. Bei mir weiß ich wenigstens, dass ich viel ertragen kann.
Viel mehr geht es mir darum, eine der vielen Geschichten über das, was in diesem angeblichen Rechtsstaat tagtäglich passiert, öffentlich zu machen für jene, die es noch nicht wissen und mitzuteilen wie es zuging für solche, die es interessiert. Außerdem hoffe ich, dass dieser Text wie ein Windstoß in die glühende Glut einiger der vielen rebellischen Herzen dieser Welt gepustet hat und dass die hautnahe Übermittlung dem einen oder der anderen Flügel verleihen konnte. Jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle!

Nachricht aus Neuland #7
Gegen 18 Uhr wurden Blaulichtfahrzeuge auf dem Weg nach Neuland gesichtet. Sie fuhren von Morschenich aus in den Wald. Es ging darum, die Gesundheit der Person auf dem Baum festzustellen. Offenbar wird aktuell NICHT geräumt, jedoch haben wir diesen Kommentar erhalten.

Evtl. war der Besuch heute Abend eine vorbereitende Maßnahme der Räumung, doch es besteht auch Möglichkeit, dass sich hier jemensch einen Spaß erlaubt.

Es wird sich zeigen, was dran ist, immerhin hat sich die Polizei in Düren, Kerpen und Merzenich bisher geweigert zu räumen, bzw. konnte noch keine rechtliche Grundlage dafür finden. Doch das ist bekanntlich kein Hinderungsgrund.

Die Menschen auf der Wiese freuen sich jedenfalls über alle Menschen, die vorbei kommen – auch wenn nicht geräumt wird!

Nachricht aus Neuland #6
Heute eine kuerzere Nachricht, um den Akku zu schonen:

Die Feuer lodern in den Tonnen. Ich werde von einer inneren Waerme durchstroemt. feuer&flamme – beides leuchtet auch in mir. ja, ich brenne fuer die sache, ich bin hier richtig…

Nachtrag 20:11

Schreibt bitte auf dem Blog, meine Ma soll sich keine Sorgen machen, ich ruf sie an, sobald wie moeglich!

Eure Kommentare koennen weiterhin per SMS weitergeleitet werden.

Eine weitere spannende und unterhaltsame Nachricht erreichte uns eben per Telefon von der Besetzung Neuland. Möge der Akku noch lange durchhalten!
Als ich gegen sechs Uhr in der Früh aufwache, ist es noch dunkel.
Ich döse noch etwas vor mich hin, meine Ohren sind gespitzt, und immer wieder blinzle ich durch den Augenschlitz meiner Sturmhaube auf den Boden und den Eingang der Arena. Falls die mich räumen wollen, ist die Warscheinlichkeit dazu jetzt am größten. Um 6:30 ist dann Schichtwechsel. Räuber und der andere Hund, dessen Namen ich noch nicht kenne, und die zwei vermeidlich dazugehörigen Menschen haben schon letzte Nacht Wache geschoben und verabschieden sich nun.
Stattdessen kommt Disko wieder hinzu. Ich erhalte einen Anruf von einem lieben Menschen und mir werden die neusten Kommentare unter meinem bisherigen Tagebaubucheinträgen vorgelesen. Ich freue mich sehr über die lieben Worte und richte Disko die Grüße aus. Der schaut kurz hoch und widmet sich dann wieder für ihn wichtigeren Dingen. So kann der Tag doch los gehen!

Ich wünsche den unten stehenden einen Guten Morgen.
Ich esse Müsli und beobachte die Warnwesten unter mir. Einer, ich nenne ihn „Solarium“, nimmt zwei Metallnäpfe aus einem Stoffbeutel. In den einen füllt er Trockenfutter, in den anderen Wasser. Während er damit beschäftigt ist, bedient sich Disko selbst und nimmt sich hinter dem Rücken des „Solariums“ eine geöffnete Blechdose mit – äähm, ich vermute Fleisch und dieser ekeligen Glibberpampe, was oft als Hunde- oder Katzenfutter verkauft wird. Die Warnung von dem anderen Security kommt zu spät, denn Disko hat die Dose längst verschleppt und leer gemacht und ich vermute, dass er denkt, das „Solarium“ will mit ihm spielen, als dieser auf ihn zugerannt kommt. Ich muss wieder mal laut lachen.

Dann kommt wieder der Tanklaster. Er befüllt alle vier Generatoren mit Treibstoff und auch die Hebebühne wird betankt und daraufhin angeschmissen. Nun bin ich aber mal gespannt. Für alle Fälle bereite ich alles auf Räumung vor (was nur wenige Minuten in Anspruch nimmt) und beobachte, wie zwei der Warnwesten und der Hebebühnenführer sich langsam im Korb aufwärts bewegen. Sie fahren bis zur Hälfte, dann darf die eine Warnweste mal lenken. Es ist einer, den ich schon vom ersten Tag „kenne“ und mit dem ich oft herumscherze. Mehr passiert nicht. Unten wieder angekommen, schmeißen einige Warnwesten ein Paar Holzknüppel, die sie vom Waldboden auflesen, in den Korb der Hebebühne. Den ganzen Vormittag lassen sie den Motor laufen. Es sind immer zwischen 20 und 30 Securitys in und um den Bauzaun verteilt. Einige bewaffnen sich manchmal mit Holzknüppeln vom Waldboden. Irgendwann macht Disko einen Ausflug in Richtung Tagebaukante und daran entlang. Von menschlicher Seite aus war das so nicht vorgesehen und er hält die Wachleute, die sich daran gemacht haben, ihn einzufangen, ganz schön auf Trab. Ich bin mir sicher, es ist keine Frage des Geschicks der Securitys, ihn wieder an die Leine zu nehmen, sondern eine seines eigenen Willens. Mir kommt es so, vor als seien die Menschen für Disko nur lästige Fliegen, die er mal zulässt, mal abschüttelt. Das „Solarium“ jedenfalls habe ich gefressen. Er ist mir unsympatisch und ausserden weiss ich: Jeder von ihnen könnte einer der aggressiven Schläger sein, die uns nun schon mehrfach geschlagen und mishandelt haben und wegen denen zwei meiner Genoss_innen grundlos in U-Haft gehalten werden. Auch er drückt mir seine Missgunst mehrmals aus. Ein mal nimmt er Diskos Kopf in seine Hände, zwingt ihn, in meine Richtung zu gucken, zeigt dabei auf mich und sagt dabei irgend etwas zu ihm.
Ein anderes Mal nimmt er die rosa Decke (sie ist mir vorletzte Nacht runtergefallen – ist aber nicht schlimm, denn ich habe noch genug hier oben) und deckt Disko damit zu. Ich lache und rufe runter: „An sowas ähnliches habe ich auch schon gedacht. Aber eigentlich denke ich nicht, dass Disko als Husky das nötig hat.“ Daraufhin nimmt er die Decke, hält sie Disko vor die Nase, wirft sie dann in’s Laub und zeigt mit dem Finger darauf. Dieser zeigt sich völlig unbeeindruckt von dem ganzen Theater.

Disko tollt auch gerne auf den Strohballen herum, welche mittlerweile nicht mehr direkt unter, sondern neben dem Baum liegen. Scheinbar haben die sich als besonders ungünstig und als tückische Stolperfallen bei dem Gerangel der Aktion am Freitag herausgestellt, sodass sie die bereits am nächsten Morgen alle beiseite geräumt haben. Wenn eine Warnweste dann versucht, hinter Disko her zu springen (z.B. um ihn zu fangen), stellt sich niemand im Ansatz so geschickt dabei an, wie der Husky.

Um mich herum wird gearbeitet. Ein einzelner Arbeiter mit orangener Warnschutzkleidung zersägt mit einer Kettensäge die bereits gefällten Bäume, und zwei riesige Schlepper mit Greifarmen laden die großen Stämme hinten auf, schleifen meist noch einen einzelnen Stamm neben sich her und stapeln sie am Wegesrand.

Später die gute Nachricht: Basti ist frei! Wie schade, dass ich nicht dabei sein konnte. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, ihn als eine der ersten in die Arme zu schließen! Lieber Basti, fühl dich ganz fest gedrückt von mir. Vielleicht können wir später telefonieren!

Am Nachmittag kommt eine Art großer Radlader in die Arena gefahren. Er hat einen Stapel Bauzäune geladen. Ich bin überrascht und frage mich, wozu sie noch mehr Bauzäune brauchen in einem bereits eingezäunten Bereich. Ein junger ohne Warnweste, vielleicht so alt wie ich, begrüsst mich mit „kleine Hure“ und spuckt neben sich auf den Boden. Ich spucke von oben herab und rufe: „Du kannst mir danken oder gehen. Ohne mich hättest du den Job nicht, aber wegen mir mußt du ihn nicht machen.“ Sie beginnen, die Bauzäune in einem Kreis um „meinen“ Baum und die Hebebühne lose hin zu stellen. Es sind etwa 10 Männer. Mittendrin, als sie gerade alle unter mir stehen, rufe ich zu ihnen runter: „So Leute. Ich muss mal pissen. Wollt ihr weiter arbeiten oder …“ Erst gucken sie etwas überrascht, fast ungläubig zu mir hoch, dann begeben sie sich alle an die Seite. Auch wenn ich sie nicht gut verstehen kann hier oben, bin ich mir fast sicher, dass sie irgendwelche blöden Witze machen. Einer holt sein Handy raus, um zu filmen. Ich bin es mittlerweile gewöhnt und finde nichts Peinliches daran, ein Menschliches Bedürfnis vor versammelter Kompanie zu verrichten, doch leider ist es doch noch nicht so weit. Ich höre wen fragen: „Du kackst aber nicht, oder?“ Da fällt mir plötzlich ein, dass ich dringend mal meinen Scheißeimer leeren müsste und erkläre es ihnen entschuldigend. Der Inhalt trifft in ihren Arbeitsbereich.

Ich mümmel mich wieder in meine Schlafdecke ein und fordere sie auf, sich lieber an die Arbeit zu machen. „Hey du da, auch du, du wirst hier schließlich nicht nur für’s Gucken bezahlt!“ weise ich einen an, der es scheinbar kaum glauben kann, denn er schüttelt immerzu den Kopf und grinst verstohlen. Eine weitere Maschine kommt angefahren und hat die Betonsockel für die Zäune dabei. Während sie unter mir arbeiten und die Zäune in einem engen Radius von ein bis zwei Metern um Baum und Hebebühne, dieses Mal mit zwei Verbindungen statt einer aufbauen, gucken manche immer wieder verunsichert und misstrauisch zu mir hoch. „Jemand gibt mir ein Bier aus, wenn ich jemandem von euch auf den Kopf pisse“ lache ich, und der Eine, mit dem ich immer scherze, guckt mit übertrieben aufgerissenen Augen und dem Mund zu einem „O“ geformt zu mir empor. „Ja auch du mein Freund, solltest wachsam sein“ und ich grinse ihn an. Leider muss ich immernoch nicht, aber als alle wieder auf den Zaun konzentriert sind, kippe ich etwas Wasser herunter und rufe: „Ups… Scherz, war nur Wasser! Aber ich könnte“ Einer guckt auch noch nach getaner Arbeit ständig ungläubig und irgendwie amüsiert zu mir hoch und ich grinse ihn dann immer breit an. Fast eine Stunde später muss ich dann doch pinkeln und entlasse den Inhalt meiner Blase in den Eimer, lege mich dann wieder hin und teile den Zuschauern mit, dass ich schonmal wieder ein bisschen aufgefüllt habe.

Als ich anfange, den nun fünften Tagebaubucheintrag zu schreiben, klärt mich einer den ich zuvor noch nicht wahrgenommen habe, darüber auf, dass Disko eigentlich Isco („mit C!“) heisst, dass es aber immerhin korrekt sei, dass ich geschrieben hätte, dass er lieb sei. Ich erkläre ihm, dass Isco hier wohl einer der wenigen sei, der seinen Kopf auch zum Denken und nicht nur zum Fressen nutzen würde, während eine andere Warnweste den Sprechenden anquarkt, er soll nicht mit mir sprechen.

Das „Solarium“ haut mit einem Knüppel vor die kleinen Astausläufer einer jungen Rotbuche und ich feuere ihn übertrieben an, „komm schon, doller, das muss richtig krachen.“ Er baut sich unter meinem Baum auf (was angesichts der 25 Meter Höhe, in denen ich mich befinde, wenig Eindruck auf mich macht) und schaut zu mir auf. Das ist alles, was er machen kann, ohne Anweisungen zu übergehen. Er murmelt etwas und ich frage laut nach: „Was hast du gesagt?“ Ich spucke aus und sage: „Vielleicht bist du ja der Grund, warum ich mein nächstes Bier nicht bezahlen musss… So und jetzt verschwinde.“ Und ich widme mich wieder meiner Klopapierrolle, die ich als Schreibpapier nutze, weil ich nichts anderes mehr habe.

Nachricht aus Neuland #5

Einer der zwei, mit denen ich mich heute gut verstehe, versucht sich über Handzeichen mit mir zu verständigen. Ich bin mir nicht sicher, was er mir sagen will, aber aus der Kombination aus: Auf sich zeigen, auf mich zeigen, Faust ballen sie einige Zentimeter in die Höhe strecken und langsam die flachen Handinnenseiten mehrmals aneinander bringen als würde er klatschen, interpretiere ich einfach mal, dass er gut findet, dass ich hier bin.
Später hören wir, wie auf einen metallenen Hohlraum ein Rhytmus geklopft wird. Meine zwei „Kumpanen“ von heute machen mit und trommeln auf dem Generator. Freudig stimme ich mit ein, drehe zwei leere Konservendosen um und klopfe einen Beat mit meinem Stift. Zumindest die zwei unten und ich amüsieren uns köstlich für ein bis zwei Minuten, dann verklingt das Tommeln und zwei große blaue ehemalige Benzintonnen werden herangeschleppt. Eine platzieren sie vor dem Eingang, die andere im Inneren der Arena. Ich frage mich, was sie vor haben. Wollen sie weiter musizieren? – Oder mich durch Trommeln wach halten? – Oder vielleicht wollen sie sie als Mülltonne benutzen? Als sie anfangen, kleine Äste von den Bäumen abzureissen und sie sie zusammen mit Stroh in die Tonne werfen, geht mir ein Lich auf: Sie wollen Feuer machen! „Wenn es brennen soll, solltet ihr trockenes Holz nehmen“ klugscheisse ich von oben herab. Ja dann machen wir das doch. Wollen die sich wärmen? Aber die Generatoren sind ja auch warm… Vielleicht wolllen sie mir aber auch Angst machen. Hm, naja. Es braucht einige Zeit, bis das erste Feuer brennt. Die werden mir hier ja fast kreativ. Aber bisher unzureichend. Ich bleib ja doch oben.

Nachricht aus Neuland #4

Während das Amtsgericht Düren belagert wurde, um Basti zu empfangen, gibt es ein Neues Update aus Neuland.
Die amerikanische Eiche, die ich besetzt halte, wird umringt von einigen weiteren ihrer Art, vor allem aber von vielen jungen Rotbuchen. Den Panoramaausblick auf den Tagebau muss ich bei Tageslicht bisher zum Glück nicht ertragen, denn gestern und heute wird er von einem dichtem, nebelartigen Schleier verhängt. Mit der Dunkelheit tauchen dann plötzlich nach und nach mehr und mehr Lichter durch die wabernde Front, so dass sich das bereits altbekannte Bild einer riesigen maschinell erschaffenen Einöde, deren Grund mir meist verborgen bleibt, sehen kann. Richtung Süden sehe ich viele gefällte Bäume, alles mal Wald, den ich kannte, durch den ich oft gestrichen bin, und gradezu verzaubert war von einer Vielfalt, wie ich sie selten gesehen hab‘. Nicht selten beschlich mich beinahe das Gefühl, durch einen Urwald zu laufen. Noch immer leben so viele Tiere im Tagebauvorfeld, dass mich jedes Mal ein Schauer überkam, wenn ich wieder mal ein Reh oder eine Rotte Wildschweine aufschreckte, und jeder neugebaute Jägerhochstand machte mich so wütend. Was bleibt diesen nichtmenschlichen Lebewesen, die so wenig an der Misere der Welt schuld sind, die sich all das nicht ausgesucht haben, denen keine Wahl gelassen wird? Was ihnen bleibt ist die Flucht oder der Tod durch die Kugel eines Jägers. Entscheiden dürfen nicht sie das. Als ich einmal eine Rotte Wildschweine bloß zwanzig bis dreißig Meter von mir erlebte, fühlte ich erst freudige Aufregung, dann tiefe Bewunderung für ihre Stärke und Wildheit und später dann eine Verantwortung, der ich mich nicht zu entsagen wusste. Diese Wesen könne nicht wählen zwischen kämpfen und nicht-Kämpfen, ihr Leben hängt davon ab, dass diejenigen Lebewesen, die Teil dieser wahnsinnigen Maschinerie, dieses tödlichen Systems sind, und das ist leider jedes menschliche Lebewesen wie Du und ich, die wir in diesen kapitalistischen Staat reingeboren werden, erkennen oder nicht erkennen und dementsprechend handeln oder nicht. Der Mensch dominiert die Welt und versucht sich alle diese nichtmenschlichen Lebewesen zu Sklaven zu machen. Viele verstehen mittlerweile, dass es so nicht mehr lange gehen kann. Es gibt viele, die verzweifeln an dem Gefühl der Ohnmacht, manche schreiten zur Tat, doch sehen nicht das große Ganze als Problem, sondern nur den akuten Fall. Ich schätze, solange Menschen sich in Hierarchien einordnen, sich dem Geld-Wert-System unterwerfen und Gesetze ohne darüber zu sinnieren anerkennen, steht die Aussicht auf langfristige Veränderung, die für uns alle wichtig wäre, in weiter Ferne.

Nachdem ich den dritten Text über Telephon diktiert habe, schnitze ich an einem Stück Rotbuche herum, in das ich „te‘ stimo“ meißeln will. Die zwei, die unten an dem vierten in der Arena stehenden Generator Wache schieben, „kenne“ ich schon von heute Morgen. Sie sind ganz witzig und weil sie sich ja nicht … mit mir unterhalten dürfen, schlage ich vor, wir könnten uns ja Briefchen schreiben. Sie nicken zustimmend und an einem Seil lasse ich einen Źettel herunter: „Na, wie geht’s Euch da unten?“ Seil mit dem Zettel unten angekommen ist, schlendert der eine wie zufällig hin, nimmt den Zettel, macht nochmal einen „zufälligen“ Bogen um die Hebebühne und geht zurück zu dem anderen. Sie lesen den Zettel und auffällig unauffällig hustet er: „Sehr gut.“ Zu einer schriftlichen Antwort kommt es leider nicht, denn ein anderer Wachmensch betritt die Arena. Di21e drei spaßen herum, schubsen sich leicht und rufen dabei „Bröb“ mit rau gerolltem „R“. Ich will mitspaßen und als sie mich mit ihren Taschenlampen anleuchten, schäle ich mich aus meinen zwei Schlafsäcken und ziehe mir die Schuhe an. Dann baue ich meine Brustprusik ins Kletterseil, danach die Acht zum Abseilen, lasse das Seil zur Hälfte hinunter, überprüfe nocheinmal Gurt und Sicherungen und beginne mich herabzulassen. Die drei unter mir werden still. Aus einer anderen Ecke höre ich eine Stimme sagen: „Die lässt sich runter.“ An der Hälfte des Seils angekommen drehe ich mich kopfüber und rufe „bröb“ und lache. Unter mir antwortet es: „Bröb“. Es tut gut wieder einmal alle Viere von mir zu strecken. Auf einmal kommt Bewegung in den Laden. Ich sehe, wie sich immer mehr Securities in die Arena machen. Manche haben es richtig eilig. Ich baumle noch ein bisschen herum und bröbe noch ein paar Mal zu der versammelten Mannschaft hinunter, während noch mehr, vor allem weiße, Jeeps angesaust kommen. Einer fragt etwas verunsichert: „Kommst Du jetzt runter oder was?“ Und ich bilde mir ein, entweder eine Spur Hoffnung oder Enttäuschung

in seiner Stimme mitschwingen zu hören. Ich lache sie alle verzückt an, drehe mich im Kreis und antworte: „Oh, habt ihr das tatsächlich geglaubt?“ Als ich wieder oben meine Beine von der Plattform baumeln lasse und die ersten bereits wieder den Rückzug angehen, sehe ich einen Vereinzelten in Warnweste hinter einem Hund in die Arena hasten und höre ihn fragen: „Wo ist sie?“ Ich lache auf ihn herab und erkläre ihm, dass die Show bereits vorbei sei und ich nett oben bleiben werde. Ich höre das letzte „Bröb“ für diesen Abend und antworte zum letzten Mal auf die selbe Weise.

Während sich vor dem Eingang zur Arena wieder eine Karre vorfährt (zwei Stunden später noch immer mit laufendem Motor davor steht, weil sie sie nicht rausgekriegt haben), sitze ich am Rande meiner Plattform, esse eine Orange, knacke Erdnüsse und versuche mit den Schalen in den Korb der Hebebühne unter mir zu treffen. Den Bericht schreibe ich auf Klopapier, weil ich kein Schreibpapier mehr habe. Dann putze ich mir die Zähne, rufe „Gute Nacht allerseits“ und lege mich schlafen.

Nachricht aus Neuland #3

Um 16:30 werden die Flutlichter angeschaltet – obwohl es noch hell ist. Später will ein Security-Team in die „Arena“, so nenne ich den eingezäunten Bereich in dem ich mich befinde. Ein Fahrzeug bleibt stecken und erst nach 20 Minuten und mit Hilfe eines anderen Teams kann es einfahren. Zwei liebe und verspielte Hunde springen freudig aus dem Kofferrraum. Die ganze Nacht befinden sich nur die beiden Hunde und ihre mutmaßlichen Bezugspersonen in der Arena, während ausserhalb um den Bauzaun herum an den drei Generatoren immer zwischen 2 und 6 Securities herumstehen, mal mehr und mal weniger Aufmerksam.

Ich ziehe mir die Mütze unter die Augen und schlafe mit einigen Unterbrechungen, die ich nutze um zu checken, ob sich etwas verändert hat. Ich träume, dass Leute einen weiteren Baum besetzen. Am nächsten Morgen wache ich auf, recke, strecke und dehne mich ausgiebig und wünsche allen Umstehenden einen guten Morgen. Keiner antwortet, aber der eine oder andere lächelt oder nickt mir zu und ich spreche die Vermutung aus, dass sie die Anweisung haben, nicht mehr mit mir zu reden. Ich pfeife ein Lied und mache Müsli. Während ich esse, liest mir jemand am Telefon die Kommentare, die unter meinem Bericht von gestern geschrieben wurden vor, über die ich mich sehr freue.

Um dem Heroismus vorzubeugen, möchte ich einige Sachen gleich mal klar stellen: Erstens kenne ich einige Leute, die genau so an meiner Stelle sitzen würden. Zweitens kenne ich einige Leute, die weitaus mutigere Sachen machen, welche jedoch ein Leben lang nicht anerkannt bleiben. An dieser Stelle möchte ich all diesen Menschen danken, die ihre Zeit, Freiheit und ihr Leben aufs Spiel setzen und/oder opfern um kapitalistische und lebensfeindliche (Groß)projekte zu stören, blockieren, sabotieren und aufzuhalten – im Rheinland und auf der ganzen Welt. Was ich hier mache, ist im Grunde „nur“ mit Geduld, Durchhaltevermögen (kommt von allein, wenn du der Meinung bist, das was du tust, bringts) ein bißchen Kletter- und Polizeierfahrung und etwas Vorbereitung verbunden. Drittens ist auch diese Aktion „nur“ daraus entstanden, dass Leute seit mehr als zweieinhalb Jahren den Widerstand aktiv und auch passiv aufgebaut haben. Durch da sein, Durchhalten, Info und Solidaritätsveranstaltungen oder Geld/Sachspenden, durch Mut machen, weitererzählen und selbst Aktionen machen. Alle können Teil des Widerstands sein, egal ob direkt vor Ort oder am anderen Ende der Welt. Ob durch Worte oder Taten. Das macht diesen Widerstand stärker und stärker – und damit möglicherweise erfolgreich. Wir alle können für unser und das Leben anderer kämpfen, wir brauchen keine Superkäfte dazu, bloß einen eigenen Kopf und Willen mit ein bißchen Kreativität, und Hände, um es anzugehen (Hände sind nützlich, aber nicht zwingend erforderlich). Auch können ein paar gute Freunde* und Gleichgesinnte hilfreich sein, und ein Herz, das unterscheiden kann zwischen legal und legitim, und zwischen gut und schlecht. Denn jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle – und alles was du tust, kann eine andere Zelle aktivieren: gegenseitige Hilfe, Respekt, Autonomie, das Band der Solidarität und für mich der Weg der Anarchie.

Ich werde ständig durch unterschiedliche Ferngläser von Securities beobachet. Meistens winke ich dann oder gucke durch mein eigenes Fernglas zurück. Manche finden das ganz witzig, andere reagieren nicht einmal. Wenn ich keine Lust habe, beobachtet zu werden, entziehe ich mich einfach ihrem Sichtfeld, manchmal kommentiere ich, was die da unten oder ich hier oben tue und lache zu ihnen runter. All der Aufwand für nix, ich bleib ja doch hier. Vor dem Zaun führt ein Husky einen Security mit gelber Warnweste (wie sie sie alle tragen) an der Leine. Als eine andere einen Stock wirft, wird er von dem Hund durch die Gegend gezogen, er fliegt geradezu hinter dem Husky her. Die beiden kommen in die Arena und der Hund wird von Leine und Security befreit. Der Mensch ruft ihn immer wieder mit dem Namen „Disko“, doch der schert sich nicht drum, und auch als sie bald zu zweit versuchen ihn zu fangen, entwischt er ihnen ohne Probleme und führt sie an der Nase herum. Immerzu muss ich laut lachen, auch zwei nicht Beteiligte in der Arena lachen ab und zu. Irgendwann lässt sich Disko dann aber doch wieder an die Leine nehmen. Ich stricke ein weiteres Stück an meinen schwarzen Stulpen, esse Erbsen und Möhren aus der Dose zum Mittag und lasse die Gedanken und den Blick schweifen.

Nachricht aus Neuland #2

Diese Nachricht erreichte uns um ca. 20 Uhr. Es scheint alles nach Plan zu laufen 🙂 Wir wünschen Neuland von hier aus eine erholsame Nacht! Wir sind alle bei dir!

Im Laufe des Vormittags wird es weniger kalt. Auch die Securitys tauen etwas auf, obwohl sie sicherlich mehr frieren müssen als ich. Einige versuchen es (stumpferweise) noch mal mit „Ey, komm mal runter“ – ich gebe zurück: „ok warte….“ und dann lache ich zu ihnen runter. Ja klar, als ob. „Wie alt bist du?“ fragt einer. „Zwölf“ rufe ich runter und für einen Moment scheinen sie es fast zu glauben, bis ich wieder in lautes Gelächter verfalle. Sie versuchen noch ein paar mal, mein Alter raus zu kriegen – ich ja versteh nicht mal, warum das in dieser Situation relevant sein sollte – und ich gebe einfach mal unterschiedliche Angaben oder gar keine: „Zweiunddreißig“, „Sechundfünfzig“, „Neun“, bis sie es aufgeben.
„Willst du Kaffee?“ fragt einer. „Ach, muss nich sein, aber wenns nich all zu große Umstände macht, sag ich nicht nein.“ Ich lasse meine Feldflasche am Faden runter und er gießt tatsächlich Kaffee hinein. Ich wärme mir die Hände an der Flasche und quatsche weiter mit verschiedenen Securitys, die sich nach einander zu Wort melden. Einer stellt fest, dass sie uns ja eigentlich in gewisser Weise dankbar seien, denn wegen uns hätten sie ja die Arbeit. Ein anderer beschwert sich, dass es ihm stinkt weil zu kalt, und er fände es ja auch nicht gut. Ich sage es läge nun ja gerade an mir dass er diesen Job hat, aber dass er uns beiden vielleicht einen Gefallen tun würde, wenn er ihn einfach nicht ganz so gewissenhaft tun würde. Das fand er aber auch nicht so überzeugend – na, dann soll er sich bei mir nicht beschweren.
Später will dann einer wieder erklären, dass das alles doch nichts bringt. Ich gebe ihm recht, es stimmt, all der Aufwand für nix, ich komm ja doch nicht runter. Ich muss wieder mal lachen. Mir, die ich auf einem Baum sitze, der schon längst hätte gefällt sein sollen, eingemauert mit Bauzäunen, nachts mit Flutlichtern beleuchtet und rund um die Uhr ständig von mindestens zwanzig Securities bewacht, all der Aufwand für eine Person auf einem Baum, mir will er erzählen, dass das alles doch nichts bringt, RWE sei doch viel zu mächtig, das juckt die doch gar nicht. Hahahaha. Baumbesetzungen im Hambacher Forst hatten vielleicht noch nie soviel Erfolg wie in diesen Tagen: In denen die Polizei sich weigert zu räumen, weil der Aufwand für sie so groß ist, und die Wiederbesetzung vorprogrammiert. RWE kann dies nicht so einfach selbst erledigen, und nun müssen sie darauf hoffen, dass ich/wir von selbst aufgeben.
Als ich klein war und davon gehört habe, wie viele Fußballfelder Urwald tagtäglich abgeholzt werden, hab ich immer gedacht: Man müsste sich davor stellen und rufen: „Stopp, nein, aufhören!!!“. Ich habe immer gedacht, die können dann doch nicht einfach weitermachen. Als ich vor zwei Jahren dann in den Hambacher Forst gekommen bin, musste ich die schmerzliche Erfahrung machen, dass das allein sie nicht aufhält. Ich habe auch andere Methoden versucht, mit Teilerfolgen. Nun sitze ich hier, angeleint in einem Klettergeschirr, eingemummelt in zwei Schlafsäcke und eine rosa Fleecedecke, kaum bewegungsfähig, und hatte selten so sehr das Gefühl, am richtigen Ort zu sein, wie hier und jetzt.
Zu meinem weiteren Tagesablauf: Ich vertreibe mir die Zeit mit Lesen (Gefangeneninfo, Berichte aus dem Knast – Ich denke dabei an meine Freunde Felix und Basti, die in der JVA Aachen in U-Haft sitzen) Schreiben, Nähen (endlich komm ich mal dazu), und mich startklar für eine Räumung machen.

Nachricht aus Neuland #1
Gerade haben wir mit der Person auf dem Baum telefoniert, und sie hat uns einen Text diktiert, den wir nun hier veröffentlichen. Er beschreibt die Ereignisse von gestern, und stellt auch einige Dinge klar, die gestern im Eifer des Gefechts vielleicht falsch übermittelt wurden. Danke an die Besetzerin*, und unsere uneingeschränkte Solidarität!

Es ist 9:30 Uhr. Vor einer halben Stunde habe ich mich entschieden die warme Fleece-Decke vom Kopf zu ziehen und meinen Hunger von gestern Nacht etwas zu stillen. Essen ist anstrengend, vor allem mit kalten Händen und Gesicht, welche sonst unter der Decke geschützt und mit einer Sturmhaube bedeckt sind. Ich befinde mich in luftigen 25 Meter Höhe. Richtung Norden habe ich einen Panorama-Blick auf den Tagebau Hambach, rechts und links steht ausser im Umkreis von 40-50m kein Baum mehr und Richtung Süden, da wo unentwegt Stämme der gefällten Bäume mit einer Maschine abtransportiert werden, die scheinbar nicht gelenkt wird, sondern von sich aus arbeitet, da weiß ich den letzten Rest vom Hambacher Forst, der noch immer an 2 Orten besetzt ist, sowie die besetzte Wiese dahinter mit all meinen Leuten. Gerade fährt ein Tanklaster aus dem mit Bauzäunen umstellten Areal, auf dem ich mich auf einer ca. 200 Jahre alten amerikanischen Eiche befinde. Er hat die Generatoren mit neuem Treibstoff versorgt, damit sie sobald es dunkel wird den Baum auf dem ich mich befinde und das umzäunte Areal mit Flutlichtern taghell erleuchten können. Seit mehr als 4 Tagen ziehen sie das nun durch. Muss ein Heiden-Geld kosten. Irgendwo weiter Richtung Osten höre ich Kettensägen-Geräusche. Heute morgen sind die Securities nicht so gesprächig, während sie gestern Nacht kaum genug davon kriegen konnten, zu mir hoch zu rufen. Sachen wie „komm mal runter, ich will ein bisschen Spaß haben“ weil er „nicht gay“ sei, sondern nur „auf Frauen stünde“. So ekelhaft das ist, ist dies die Realität, in der so viele Menschen leben. Ich ja auch, bloß dass ich vielen dieser Extreme nicht Tag für Tag ausgesetzt bin, denn im besetzten Wald und auf der Wiese sind die Menschen um ein bedachteres Klima bemüht. Die ganze Zeit sind etwa 20 von diesen Typen um mich herum, innerhalb und ausserhalb der Bauzäune und bewachen mich wie Bluthunde. Sie warten darauf, dass ich aufgebe, oder dass wieder etwas wie gestern Abend passiert. Eine echte Niederlage für sie. Etwa 30 Leute die sich nicht von den mit Taschenlampen und Stöcken aus dem Wald bewaffneten Securities haben beeindrucken lassen, sondern einfach schnurstracks durch die Bauzäune auf den besetzten Baum zugingen, während sie dem Wachschutz erklärten, es würde keine Gewalt von der Gruppe ausgehen, wir würden nur zum Baum wollen und dann wieder verschwinden. Aus dem Gerangel bei den Strohballen unter dem Baum steigt plötzlich unerwartet eine Person mit nicht sichtbarem Klettermaterial (unter den Klamotten) am Seil empor. Ein Security versucht sich noch an den Rucksack zu hängen, doch wird von anderen schnell wieder abgepflückt. In wenigen Sekunden bin ich ausser Reichweite, entkomme dem Tumult und den Schreien auf dem Boden. Sie machen Anstalten, die Hebebühne, welche direkt unter dem Baum steht anzuschmeißen, doch sie wird von darauf sitzenden Leuten blockiert – sie merken scheinbar, dass sie selbst ihr Leben riskieren würden, weil sich von ihnen niemand mit Baumklettern auskennt. Es ist mühsam, mit dem Rucksack auf dem Rücken zu klettern, doch ich treibe meinen Körper bis an seine Grenzen. Als ich oben ankomme, großes Hallo. Der andere ist glückselig über die Ablösung. Es bedeutet neue Kraft, Motivation und dass wir noch etwas länger die Rodung, und damit den Tagebau direkt blockieren. Und diesmal scheint die Polizei nicht so leicht für eine Räumung zu haben sein. Als der andere sich fertig macht um runter zu gehen beobachte ich das Treiben am Boden. Ich höre eine mir vertraute Stimme wie sie weinend und voller Entsetzen zu 2 Securities spricht: „Wie könnt ihr das bloß tun? Dieser Mensch hier blutet – ihr habt ihn mit einer Taschenlampe blutig geschlagen.“ Wie ich sie höre, muss auch ich weinen und mache mir große Sorgen um meine Lieben die für heute Abend einen so viel härteren Part übernehmen müssen als ich. Ich sehe, dass es einige scheinbar geschafft haben, zu entkommen, während die, die noch da sind nun vom Wachpersonal (welche mittlerweile 4 mal so viele sind wie zuvor) eingekesselt werden, während sie auf das eintreffen der Polizei warten. Der andere Kletterer und ich verabschieden uns herzlich und ich freue mich für ihn, dass er nun endlich runter kann. Nun bin ich allein hier oben. Ich rufe die Person an, die hinter einem Computer-Bildschirm sitzend auf Neuigkeiten wartet und erzähle von der gelungenen Aktion. Die Stimmung am Boden beruhigt sich langsam, und nach und nach werden die Leute abgeführt. 6 meiner Freund*innen werden noch lange in der Kälte festgehalten. Irgendwann werden die Securities mit warmen Getränken versorgt, und sie geben auch meinen frierenden Lieben etwas, und stellen noch die Kiste mit Obst, die seit knapp 4 Tagen unter dem Baum steht in den Kreis der aneinander gekuschelten Aktivist*innen. Alles andere wäre Folter gewesen. Aus mir unbegreiflichen Gründen macht es sowohl der Polizei als auch besonders den Securities scheinbar Spaß, mit überhellen Lampen zu mir hoch in den taghell beleuchteten Baum zu leuchten, was mich nicht weiter stört, denn ich kann das Licht ganz einfach mit meiner Hand abschirmen. Irgendwann gegen 22 Uhr wird die letzte Person von den Cops abgeführt und nun beginnt mein Part erst so richtig: Nun bin ich hier vor Ort auf mich allein gestellt, umzingelt von Menschen die dafür sorgen, dass ein über 12000 Jahre altes Ökosystem bis zur Gänze zerstört werden soll, Menschen gezwungen werden sollen, ihre Häuser zu verlassen und Tiere ganz einfach umgebracht werden, um eine veraltete, extrem klimaschädliche und sich kaum lohnende Energiegewinnung aufrecht zu erhalten. Umzingelt vom Feind. Dabei sind die, die hier unter mir stehen ja nicht einmal die direkt verantwortlichen. Sie sind Sklaven des Systems, in dem man Geld „braucht“, einen Status „braucht“, um darin zu überleben. Und viele kennen einfach keine Alternativen oder haben keine Zeit darüber nachzudenken weil sie ja arbeiten „müssen“. The system works because you work. Ich versuche etwas zu schlafen, während es mit jeder Stunde kälter wird. Ich bin froh um meine dicke Sturmhaube aus Kunstwolle. Denn nun sorgt sie mehr dafür, dass ich warm bleibe, als dazu, mein Gesicht zu vermummen. Gegen 2:30 Uhr erhalte ich einen Anruf von jemandem und ich bin froh seine Stimme zu hören. Es ist die Person, die eine Platzwunde am Kopf davongetragen hat, nachdem ein Security-Mitarbeiter ihn mit einer Stabtaschenlampe verprügelt hat. Er sagt, dass alle wieder draussen sind, und nachdem die ersten vehement Widerstand gegen die Abnahme der Fingerabdrücke geleistet haben, es bei den später Festgenommenen gar nicht erst versucht wurde. Somit sind alle die es so wollten ohne Personalienfeststellung rausgekommen. Alles in allem eine verdammt erfolgreiche Aktion. Solidarität ist unsere Waffe! Irgendwann in der Nacht ist Schichtwechsel bei den Securities. Manche verabschieden sich von mir und wünschen mir eine gute Nacht. Obwohl ich mich nachts immer wieder verschlafen neu einmummeln muss um nicht zu frieren fühle ich mich morgens einigermaßen fit. Fit genug, um den ganzen Tag mit ungewohnt wenig Bewegung herumzukriegen.

Das wars erstmal vom Baum. Fortsetzung folgt!