Dieser Beitrag ist eine Einzelmeinung einer Einzelperson.
Anfang des Jahres gab es hier und auf indy einen Text zur Kritik an Ankettaktionen. Seitdem haben wir selbst oft die Aktionen des „Aufstand der letzten Generation“ kritisiert. Der „A“dlG ist halt auch hochproblematisch. Erst seit kurzem verstehe ich mein Unbehagen mit dem oben verlinkten Text und weiteren dogmatisierten Militanzforderungen (wie letztens auch bei nitter.42l.fr/AnarchistsLue gesehen). Deshalb jetzt hier: Eine Sammlung von Gegenthesen. Erklärung folgt unten, Fachbegriffe ganz am Ende.
- Versucht, die Mittel und Motivationen der Polizei u.a. Gegner sowie Dynamiken realistisch einzuschätzen.
- Versteht, dass verschiedene Menschen verschiedene Bedürfnisse haben, und wie verschiedene Strategien dazu (nicht) passen.
- Gruppendruck ist schädlich.
- Safety by numbers funktioniert.
- Diversity of Tactics endlich ernstnehmen!
1. Versucht, die Mittel und Motivationen der Polizei u.a. Gegner realistisch einzuschätzen.
Motivation
Die Polizei – auch die deutsche – tötet und gefährdet täglich Menschen. Sie hat die Mittel dazu. Aber: Es ist nicht ihr Ziel.
Der Staat sperrt uns ein, fügt uns Schmerzen zu, nimmt uns Dinge und Räume und traumatisiert uns bewusst und gezielt. Schwere, gefährliche oder tödliche körperliche Verletzungen sind in Deutschland aber fast immer Folge von Inkompetenz, vor allem, wenn die verletzte Person weiß ist. Mir sind durchaus Ausnahmen bekannt, aber in Deutschland ist die Regel, dass private Security, Werksfeuerwehren etc. gefährlicher, brutaler und skrupelloser sind, während schwere und gefährliche Verletzungen durch die Polizei fast immer Fahrlässigkeit sind, meist einfache, manchmal grobe Fahrlässigkeit.
Schon in Frankreich sieht das anders aus, da würde ich im Regelfall von grober Fahrlässigkeit und gelegentlich von bedingtem Vorsatz ausgehen.
In Tschechien ist es wieder ganz anders. Die Bereitschaftscops sind da eher ekliger als hier, die Schlagstöcke härter, aber das SEK traut sich laut eigener Aussage nicht zu, Kletterräumungen sicher durchzuführen und lässt es deshalb einfach bleiben. Daraus entsteht dann die tschechische Tradition, im Winter auf Dächern rumzusitzen. Besetzte Häuser werden da üblicherweise im Winter geräumt, und enden prinzipiell in einer Belagerung, weil das Dach als unräumbar angesehen wird. Gleiches gilt, wenn eins auf Kohlebagger klettert – es gab noch keine Räumung, die klettern erfordert hätte.
Mittel
Sie können und wollen uns einsperren. Ja. Aber sie können uns nicht alle einsperren.
In ganz NRW existieren zwischen 10 und 20 Gewahrsamszellen, die für ein verlängertes Gewahrsam tauglich/zugelassen sind. Es gab in NRW seit Inkrafttreten des neuen PolG einige Aktionen, bei denen teils viele Menschen mit präparierten Fingerkuppen Personalien verweigert haben. Meines Wissens nach sind noch nie mehr als 14 Menschen gleichzeitig nach dem Lex Hambi in Gewahrsam gewesen.
Anderes Beispiel: Ende Gelände 2016 in der Lausitz. Eine Person landete in Brandenburg in U-Haft für Widerstand/Körperverletzung und Personalienverweigerung in U-Haft, nachdem ein Bulle beim Wegtragen der Person offenbar eine Berührung am Knie verspürte. Einen Tag später wurden um die 100 Menschen mit teils deutlich schwereren Vorwürfen festgenommen – alle davon kamen noch in derselben Nacht wieder frei, die meisten anonym.
Übrigens: Dass die Hambiräumung am 19.9.2018 für einige Tage „ausgesetzt“ wurde, lag wahrscheinlich nur nebensächlich daran, dass Steffen abgestürzt ist, und mehr am akuten Mangel an Hebebühnen.
Dynamik
Cops werden gefährlicher, wenn sie gestresst sind. Das heißt auf gar keinen Fall, dass wir sie nicht stressen sollten, im Gegenteil. Diese geringe Stresstoleranz wäre selbst dann unverzeilich, wenn man die Existenz der Institution Polizei akzeptieren würde. Aber wir können damit rechnen.
Ankettaktionen sind in Deutschland hoch ritualisiert: Die Polizei weiß ziemlich genau, dass sie angekettete Leute nicht mit Schmerzgriffen oder Pfefferspray da weg kriegt. Klar gibt es gelegentlich sadistische Cops, die einfach aus Spaß Schmerzgriffe anwenden, aber die Meisten bilden sich dabei ein, dass das irgendwie sinnvoll und verhältnismäßig wäre. Sind Menschen offensichtlich angekettet, wartet man halt auf die TMÖL, was nicht selten Cops sind, die Lockons als technische Herausforderung mögen. Und ja, auch hier gibt es Fälle, wo Bullen eher Rambo spielen und versuchen, ein Lockon ohne TMÖL zu lösen, aber insgesamt halte ich Lock-on-Aktionen für weniger gefährlich als einfache Sitzblockaden, denn hier haben die Rambobullen freie Hand.
Und das ist die Überleitung zu Punkt 2:
2. Bedürfnisse und dazu passende Strategien
Manche Menschen brauchen Planbarkeit, andere sind ok mit sich dynamisch entwickelnden Situationen.
Manchen Menschen macht ein Gesaaufenthalt nichts aus, manche werden schon von Polizeikontakt getriggert oder (re)traumatisiert.
Manche Menschen können schweigen wie ein Grab, andere brauchen die Möglichkeit, über Aktionen zu reden.
Manche Menschen haben Höhenangst, andere fühlen sich gerade wohl in der Höhe.
Manche Menschen haben genug Wut, um die Verletzung von Cops, Secus oder Nazis zu wollen oder in Kauf zu nehmen, andere haben dafür zu viel Empathie auch mit den eigenen Feind*innen, oder ethische Standards, die das nicht zulassen.
Und all das ist ok.
Aber es macht verschiedene Aktionsformen für verschiedene Menschen nötig.
- A kann sich nicht leisten, Polizeikontakt zu haben, und macht lieber Hintergrundarbeit.
- B findet Sozialdynamiken und Überraschungen überfordernd, kann mit vorher eingeplanten Gesaaufenthalten aber gut umgehen, also könnte für ihn ein Lock-On die ideale Aktionsform sein.
- C fühlt sich am wohlsten im Schutz einer großen Gruppe und ist deshalb Teil großer Sitzblockaden.
- D braucht eine Gruppendynamik, um die Militanz, die es richtig und wichtig findet, auch umzusetzen.
- E will Repression vermeiden, kann aber ohne Probleme über lange Zeit eine Legende aufrechterhalten und sorgfältig arbeiten – Sie sollte sich der klandestinen Sabotage widmen.
- F ist weiß und gesund genug, auch eine gewaltsame Festnahme weitgehend unbeschadet zu überstehen, und drängt sich deshalb der Polizeikette offensiv auf, um durch die eigene Festnahme Kapazitäten zu binden und so dem illegalisierten G ein Entkommen zu ermöglichen.
- H ist auf Bewährung, will aber die Comrades nicht im Stich lassen, und meldet deshalb Demos an und sitzt auch mal tagelang vor einer Gesa, leistet Emotionale Erste Hilfe und Öffentlichkeitsarbeit.
- I mag Technik generell mehr als Menschen und entwickelt effektiveres Material und Infrastruktur für Besetzungen, verpisst sich aber beim ersten Anzeichen von Stress.
- J mag Papierkrieg und ist von Strafverfahren weniger gestresst als vom Wissen, nicht alle zur Verfügung stehenden Mittel gegen die Cops aufgewendet zu haben: J geht in Aktionen mit dem Ziel, am nächsten Tag eine Verwaltungsklage zu schreiben und gibt deshalb (irgendwann) Personalien an.
Alle diese Strategien und Taktiken und noch viele andere sind valide. Herauszufinden, welche die Richtige für eine Person oder Bezugsgruppe ist, ist relevant für den Erfolg der Aktion. Habt ihr Vorbelastungen? psychische oder physische Erkrankungen oder Behinderungen? Spezialinteressen? Privilegien, die andere um euch nicht haben? Gefährdet oder schützt ihr die um euch, wenn ihr diese Privilegien einsetzt?
3. Gruppendruck ist schädlich
Viel zu sagen gibt es dazu nicht, nur: Jede Art von Gruppendruck und subkultureller Erwartung führt dazu, dass Menschen Aktionen machen, die nicht zu ihnen passen. (Siehe Punkt 2.)
„Wie, du trittst mit Klarnamen auf?“
„Wir lassen uns alle festnehmen, um blablabla.“
„Komm, wir gehen spontan eine Pumpstation abfackeln“
Stop it. All of this.
Sprecht darüber, was für wen in der Situation sinnvoll ist zu tun, und was dafür oder dagegen spricht, bestimmte Aktionsformen oder Antirepstrategien zu wählen. Aber Gruppendruck und Erwartungshaltungen sind für Aktionplanung mit das Schädlichste, was es gibt. (Mal ganz abgesehen davon, dass Spitzel eins wirklich gut können: Gruppendruck aufbauen.)
Während wir anerkennen müssen, dass es oft nur die Wahl zwischen Gewalt und Wirkungslosigkeit gibt, steht es niemand zu, zu bewerten, ob Menschen sich entscheiden, Gewalt gegen sich selbst anzuwenden (sog. „gewaltfreie Aktionen“), weil sie wissen, dass sie damit gut umgehen können, oder ob Menschen Gewalt gegen die Unterdrücker anwenden. Und diese Entscheidung aus sich selbst heraus, qualifiziert und frei treffen zu können, ist Vorraussetzung für gelingende Aktionen und erfolgreiche Bewegung.
4. Safety by Numbers funktioniert.
Ich hab unter 1. schonmal drüber geschrieben: Wenn viele Leute beteiligt sind, ist das Risiko für die einzelne Person geringer.
Wenn eine Handvoll Leute die Cops militant bekämpft, ist es leicht, diese herauszufinden und mit Repression zu überziehen. Wenn dutzende oder hunderte dasselbe tun, werden die Cops nur einen Teil bestrafen können – wenn überhaupt.
Wenn nur die Person ohne Aufenthaltstitel oder mit laufender Bewährung Personalien verweigert, ist es wahrscheinlich, dass sie lange festgehalten wird oder identifiziert wird. Wenn 20 Leute Personalien verweigern, und den Cops die ED-Behandlung so schwer machen wie möglich, kann es sein, dass sie irgendwann aufgeben. Wenn 100 dasselbe tun, ist es wahrscheinlich, dass sie nichtmal schaffen, Fotos von allen zu machen.
(Bei Lebenslaute 2021 in Garzweiler, während des Klimacamps, haben ~30 Persoverweigerungen gereicht, dass die Polizei Aachen nur die Hälfte von ihnen überhaupt ED-behandelt hat, die anderen wurden irgendwann einfach so rausgelassen. Von diesen 30 haben etwa 20 nur aus Solidarität Personalien verweigert, um genau diesen Effekt zu erzielen. Damit die, die sich kein Verfahren leisten konnten oder wollten, anonym rauskommen)
5. Fazit: Diversity of tactics endlich ernstnehmen!
Es nervt, wenn dogmatisch gewaltfreie Gruppen ihre Aktionsformen als die einzig wahren verkaufen wollen – sei es aus ethischen oder vermeintlich taktischen Erwägungen. Es nervt genauso, wenn Andere „gewaltfreie“ Taktiken und Aktionsformen per se schlechtreden und verwerfen wollen.
Aktionen sind problematisch, wenn sie neben sich keine anderen Aktion(sformen) zulassen, und Gruppen sind problematisch, wenn sie bestimmte Taktiken, Strategien und Organisations- wie Aktionsformen als einzig zulässig oder einzig möglich oder einzig wahr erklären oder (explizit oder implizit) verlangen. Einzige Ausnahme: Absprachen, die dazu dienen, dass alle Beteiligten planen können, worauf sie sich einlassen, und sich frei entscheiden können, ob sie es tun, sollten natürlich einen gewissen Rahmen an Aktionsformen verlangen – solange es immer die Möglichkeit gibt, nebendran andere Aktionen zu machen.
Lasst uns lernen – von vergangenen oder eingeschlafenen sozialen Bewegungen, hier und anderswo. Dabei immer die innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen beachten, denn manches, das mal wo funktioniert hat, funktioniert hier und heute nicht. (Oder andersrum).
Aber gerade die deutsche Anti-Atom-Bewegung hatte so vieles übernehmenswerte, zB das explizite Streckenkonzept: Jede*r macht die Aktion, die eins für richtig hält, und kommt sich dabei nicht in die Quere. Als Label funktioniert so ein Strecken- oder Flächenkonzept zur Zeit nicht so richtig, aber den dahinterstehenden Konsens halte ich für erstrebenswert.
Und nicht alle Aktionen sind schlecht, nur weil eine grußlige Sekte namens Extinction „Rebellion“ oder „Aufstand“ der letzten Generation sie nutzt.
Fachbegriffe
Einfache Fahrlässigkeit: Der Täter hat nicht auf dem Schirm, dass seine Handlung zu (in dem Fall) Verletzungen führen kann.
Grobe Fahrlässigkeit: Der Täter weiß, dass seine Handlung gefährlich ist, hofft aber, dass es schon gut geht.
bedingter Vorsatz: Der Täter weiß, dass seine Handlung gefährlich ist, es ist ihm egal.
unbedingter Vorsatz: Der Täter will verletzen.
TMÖL: Technische Maßnahmen Öffnen und Lösen, Technische Einheit der Polizei (heißt überall bisschen anders, aber ich mag die Abkürzung TMÖL…)
Gesa: Gefangenensammelstelle. Ist ein polizeilicher Fachbegriff, im Bewegungssprech ist damit jeder Ort gemeint, an dem Menschen von Cops festgehalten werden, außer Gefängnisse.
klandestin: geheim, heimlich
ED-Behandlung: Erkennungsdienstliche Behandlung; Meist Gesichtsfotos und Fingerabdrücke, manchmal auch Erfassung von Größe, Gewicht, Narben, Tattoos, im schlimmsten Fall DNA-Entnahme, wobei das in Deutschland noch relativ selten ist und separat angeordnet werden muss.