Riskante Billig-Energie: Wahnwitziger Braunkohle-Boom

Eine Multimediareportage von Janosch Delcker, Martin Sümening und Christoph Seidler
Stromerzeugung aus Braunkohle ist extrem schädlich für unser Klima – doch in Deutschland ein Milliardengeschäft. In der Lausitz sollen nun sogar neue Tagebaue entstehen. Welche Folgen hat das und wie reagieren die Menschen in der Region?

Die Jugend interessiert sich nicht für Politik? Cottbus beweist das Gegenteil. Die Messehalle ist bis auf den letzten Platz besetzt, und viele der mehreren Hundert Gäste sind junge Männer. An diesem Montagmorgen im April tritt hier der Braunkohleausschuss zu seiner 82. Sitzung zusammen: Neun Männer im dunklen Anzug, alle nicht mehr ganz so jung, sitzen auf dem Podium.

Es ist das vorläufige Ende eines langen Kampfes: Nach sieben Jahren Streit entscheidet sich an diesem Tag, ob der schwedische Energiekonzern Vattenfall seinen Tagebau Welzow-Süd um rund 20 Quadratkilometer erweitern darf. Etwa 800 Menschen würden ihre Heimat verlieren, damit Vattenfall ab dem Jahr 2027 insgesamt etwa 200 Millionen Tonnen Braunkohle fördern kann.

Unter anderem soll das Dörfchen Proschim bei Welzow den riesigen Fördermaschinen weichen. Dort lebt auch Johannes Kapelle – zusammen mit zwei Dutzend Hühnern und zwei Kühen. Seit Jahrzehnten kämpft Kapelle gegen die Kohle. Kürzlich hat er es damit sogar zur Internet-Berühmtheit gebracht.

Im Video: Wo ist Goliath, wenn man ihn braucht?

Braunkohle floriert in Deutschland – nicht trotz, sondern wegen der Energiewende. Es ist ein wahnwitziger Boom.

Ein Jahr hat 8700 Stunden – und 7500 bis 8000 davon laufen Vattenfalls Kraftwerke mit maximaler Leistung. „Da ist nicht mehr viel Luft nach oben“, sagt Hartmuth Zeiß, Vorstandschef in der Bergbausparte von Vattenfall. Nach Berechnungen der AG Energiebilanzen wurden 2013 aus Braunkohle 162 Milliarden Kilowattstunden Strom hergestellt.

Es ist der höchste Wert seit der Wiedervereinigung – auch seinetwegen droht Deutschland die eigenen Klimaziele für das Jahr 2020 zu verpassen: Im Vergleich zu 1990 sollen die CO2-Emissionen dann eigentlich 40 Prozent niedriger liegen. Doch das dürfte nun schwierig werden.

Zwar hat sich Nordrhein-Westfalens rot-grüne Regierung entschieden, das Wachstum des RWE-Tagebaus Garzweiler zu begrenzen. ( Anmerkung vom hambi blog, dies ist nicht richtig, RWE hat dies entschieden und nicht die Landesregierung, den die sitzt in ihren Sesseln und Pupsssst)Doch Sachsen hat im März die Erweiterung des Vattenfall-Tagebaus Nochten genehmigt. Und in Brandenburg soll Welzow-Süd wachsen.
http://cdn4.spiegel.de/images/image-713663-galleryV9-novv.jpg
SPIEGEL ONLINE
Deutschland produziert schon jetzt mehr Braunkohle als jedes andere Land der Welt. Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe hat ausgerechnet, dass der Gesamtwert zuletzt 8,4 Milliarden Euro pro Jahr betrug. Und die Deutsche Umwelthilfe geht davon aus, dass allein Vattenfall im vergangenen Jahr rund eine Milliarde Euro Gewinn mit Braunkohle gemacht hat. Und die Kollegen von RWE, die in Nordrhein-Westfalen fördern, noch einmal genauso viel.

Braunkohlestrom ist aus mehreren Gründen für die Konzerne attraktiv:

Das EU-Handelssystem für Verschmutzungsrechte produziert durch eine Flut von Gratiszertifikaten nur einen läppischen CO2-Preis.
Durch diesen niedrigen CO2-Preis werden teuer produzierende Gaskraftwerke eher aus dem Markt gedrängt als die schmutzigeren Braunkohlemeiler.
Die Braunkohletagebaue als energieintensive Betriebe sind – zumindest einstweilen – von der Erneuerbaren-Energie-Umlage ausgenommen.

Energiemanager präsentieren die Kohlekraft zudem als sogenannte Regelenergie: Sie soll im Netz Schwankungen beim Angebot von Wind- und Sonnenenergie ausgleichen. „Das ist so, als versuche man, mit einem Truck Slalom zu fahren“, sagt Vattenfall-Manager Zeiß. Das sei zwar machbar, aber dafür brauche es auch langfristig Kohle – etwa aus der Erweiterung von Welzow-Süd.

Vor der Messehalle in Cottbus stehen sich Kohlegegner und Kohlefans gegenüber. Johannes Kapelle, der „Opa ohne Lobby“ aus dem YouTube-Film, gehört zu den Gegnern. „Nein zum neuen Tagebau Welzow-Süd“, steht auf den Protesttransparenten, und: „Kühltürme unter Denkmalschutz und Ende mit dem Kohleschmutz“.

Kohlegegnerin Antje Kirchner aus Cottbus wettert: „Der Braunkohleausschuss ist eine Farce.“ Hier werde Demokratie nur „geheuchelt“. Die Landesregierung versuche, die Erweiterung des Tagebaus durchzudrücken. Von den 120.000 Einwendungen gegen das Projekt finde sich kaum etwas im Braunkohleplan wieder, über den nun abgestimmt werde.

Zehntausende Existenzen hängen am Tagebau

Wenige Schritte entfernt, auf der anderen Seite der Halle, stehen die Kohlebefürworter von Vattenfall und der Gewerkschaft IG BCE. Es sind viele – und sie haben ebenfalls Transparente dabei. Auf denen steht: „Wir lassen die Lausitz nicht ausradieren“ oder „Energiewende mit Kohlekraft – Gegen Polemik und Desinformation.“ Rund 8200 Jobs in der Lausitz hängen direkt von Vattenfall ab. Und rechnet man Zulieferer und Servicefirmen dazu, landet man bei insgesamt etwa 25.000. Nicht nur im strukturschwachen Osten ist das eine beeindruckende Zahl.

Für den Erhalt dieser Arbeitsplätze kämpft neben Lokalpolitikern auch Lars Katzmarek. Im Hauptberuf ist der 21-Jährige Elektrotechniker bei einem Vattenfall-Zulieferer; in seiner Freizeit rappt er unter dem Künstlernamen Crease. Er hat sich den Kampf für die Kohle zur persönlichen Aufgabe gemacht.

Im Video: „Laut für unser Revier“ – ein Rapper für die Kohle

Crease dementiert eine direkte Unterstützung durch Vatenfall, doch der Konzern weiß, wie man Meinung macht. Bei der entscheidenden Diskussion hat die Firma ihre Mitarbeiter in die Cottbusser Messehalle geschickt, vor allem Azubis. Auf Nachfrage bestätigen die jungen Männer, ihre Vorgesetzten hätten die Sitzung zum Pflichttermin erklärt.
http://cdn2.spiegel.de/images/image-710749-custom-nncd.jpg
Das erklärt auch die Stimmung: Kohlebefürworter auf dem Podium werden begeistert beklatscht, Gegner verlacht. Am Ende wird der Ausschuss mit 15 zu 8 Stimmen empfehlen, Welzow-Süd zu erweitern.
http://cdn1.spiegel.de/images/image-714024-galleryV9-xjnu.jpg
SPIEGEL ONLINE; Vattenfall
Wenige Wochen später wird auch die rot-rote Landesregierung in Potsdam das Projekt durchwinken. Dabei hat erst vor Kurzem der Weltklimarat eindrücklich vor den dramatischen Folgen des weltweiten Kohlebooms für das Erdklima gewarnt. Eine Dekade der Kohle habe den Ausstoß des Klimagases CO2 auf bisher ungekannte Werte beschleunigt – ungeachtet der Wirtschafts- und Finanzkrise. Als in der Cottbusser Messehalle die Rede auf den IPCC-Bericht kommt, geht ein hämisches Lachen durch den Saal voller Kohlearbeiter. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Die Kohlegegner drohen mit einer Klagewelle gegen den neuen Tagebau. Sie hatten 121.000 Unterschriften gesammelt. „Wir wollen nicht, dass die Kohle morgen aufhört“, sagt Helga Tetsch aus Proschim. Aber irgendwann müsse auch mal Schluss sein. Und zwar so, dass ihr fast 500 Jahre altes Dorf stehen bleiben kann, mit der Backsteinkirche, mit dem Museum in der alten Schule, mit der Biogasanlage, den Windrädern und dem Solarpark am Ortsrand.

„Kommen wird dieser Tagebau nie. Dafür werde ich arbeiten, solange mein Herz schlägt“, sagt Proschims Ortsvorsteherin Petra Rösch bei der Beratung des Braunkohleausschusses. In Amerika würden Kohlegegner auch schon mal erschossen, zischt währenddessen jemand leise im Publikum. Niemand widerspricht.

Braunkohle-Tagebau der Vattenfall Europe AG bei Jänschwalde
DPA

Braunkohle-Tagebau der Vattenfall Europe AG bei Jänschwalde

Naturschutz gegen Arbeitsplätze – von diesem Streit in der Lausitz ist immer wieder die Rede. Der von Vattenfall geförderte Verein „Pro Lausitzer Braunkohle“ hat 68.000 Unterschriften gesammelt, f ü r die Kohle. Der Streit um den Tagebau ist damit kein klassisches Not-in-my-backyard-Problem, wie es Planer in der ganzen Republik sonst beschäftigt – wenn Anwohner gegen Stromtrassen, Windräder oder neue Verkehrswege Sturm laufen.

Nicht in meinem Hinterhof, darum geht es hier in der Lausitz nicht. Es geht stattdessen einerseits um die Frage, ob man sich Haus und Hinterhof noch leisten kann, oder ob man den Jobs in andere Teile des Landes hinterherziehen muss. Und andererseits darum, ob Haus und Hinterhof in einigen Jahren überhaupt noch existieren. Rund 80 Orte sind über die Jahre verschwunden, damit die Tagebaue und Kraftwerke wachsen konnten. Nicht zum Selbstzweck, sondern um den Strom zu produzieren, den jeder verbraucht hat.

Und auch, um Menschen Arbeit und Perspektive zu geben, die von der Kohle leben. Dabei hilft mit einer Förderbrücke des Typs F60 die größte bewegliche Maschine der Welt, rund einen halben Kilometer ist sie lang. Vorn nimmt sie die Kohle auf und schüttet sie auf Förderbänder, weit hinten speit sie den Abraum aus.

Panorama-Fotos: Verschaffen Sie sich den Überblick

Bewegen Sie mit der Maus den Bildausschnitt
Wenn man vor den riesigen Maschinen im Tagebau Jänschwalde steht, rund 100 Meter unter der eigentlichen Geländelinie, dann kann man den alten Wald noch erkennen, der hier vor rund 15 Millionen Jahren stand und dessen Pflanzen der Ausgangsstoff für die Braunkohle waren. Große Holzstücke ragen aus dem Flöz. Sie sehen so unbeschadet aus, als hätte sie erst kürzlich jemand dort abgelegt. Die Braunkohle ist so weich, dass man sie mit der Hand zerbröseln kann. Und sie ist in großen Mengen vorhanden, könnte noch jahrzehntelang abgebaut werden.

Zumindest, wenn man weiter gewillt ist, den Preis dafür zu bezahlen. Für die Tagebaue wird nicht nur die Landschaft komplett umgepflügt und muss mühevoll rekultiviert werden. Die Folgen sind auch lange nach dem Ende der Förderung spürbar. Das zeigen etwa die von Eisenhydroxid verdreckten Wasserkanäle, die die Touristenidylle im Spreewald bedrohen. Die ockerrote Substanz wird aus alten Tagebaugebieten gespült.

DPA
Und dann ist da noch die Sache mit den instabilen Böschungen an vielen, längst gefluteten Fördergebieten der ostdeutschen Braunkohlereviere. Weil riesige Hangbereiche unter ungünstigen Bedingungen abrutschen können, bleibt manch neu angelegter See für die Öffentlichkeit gesperrt. Landwirte wie Matthias Kurt aus dem Lausitzort Settinchen können renaturierte Flächen, die sie einst gekauft haben, nun gar nicht nutzen:

Im Video: „Wir fühlen uns alleingelassen“ ein Landwirt und die Altlasten der Kohle
http://cdn4.spiegel.de/images/image-710493-panoV9free-pcja.jpg
Der Streit um die Kohle offenbart ein fundamentales Dilemma: Wer entscheidet darüber, was Zukunft, was Entwicklung ist? Was gut ist für die Menschen in der Region? Und was tut man, wenn das zugleich schlecht ist für die Menschen im Rest der Welt?

Beide Seiten, Kohlebefürworter und -gegner, zanken in der Lausitz schon seit Jahren. Sogar innerhalb von Brandenburgs Landesregierung gibt es zwei Lager: Neben Landesvater Dietmar Woidke (SPD) trommeln die Minister Jörg Vogelsänger (Infrastruktur, SPD) und Ralf Christoffers (Wirtschaft, Linke) für die Kohle, ihre Kollegin Anita Tack (Umwelt, Linke) will davon nichts wissen. Ein Kompromiss scheint mittlerweile schwer denkbar: Ein neuer Tagebau wird entweder beschlossen oder eben nicht.

Die Politik hat es versäumt, das Dilemma aufzulösen. Etwa dadurch, dass sie vor schon vor Jahren ein Ausstiegsdatum festgelegt hätte. Stattdessen will die Mehrheit in Brandenburgs Landesregierung die Kohle um jeden Preis.

Damit riskiert die Politik eine Klagewelle ungekannten Ausmaßes. Die Eile hat freilich auch damit zu tun, dass in Schweden im September gewählt wird. Und eine neue Regierung könnte dem Staatskonzern Vattenfall womöglich sogar den Rückzug aus dem schmutzigen Geschäft in Deutschland verordnen. Der neue Tagebau soll dagegen Perspektiven für die Kohle bieten – auch wenn die Region daran zu zerbrechen droht.

Tatsache ist: Auch auf lange Sicht wird Braunkohle in Deutschland nicht knapp. In erschlossenen und konkret geplanten Tagebauen liegen landesweit allein 5,6 Milliarden Tonnen. Von den insgesamt entdeckten Ressourcen sind 34,8 Milliarden Tonnen nach aktuellem Stand wirtschaftlich förderbar. Braucht man Projekte wie die Erweiterung von Welzow-Süd also tatsächlich?

„Kohlestrom gehört der Vergangenheit an“, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Kemfert von der Hertie School of Governance in Berlin. Längst nicht jeder in der Lausitz teilt allerdings diese Meinung. Am Ende werden Richter den Ausgleich finden müssen, den Politiker nicht finden konnten oder wollten. „Wir müssen auf Zeit spielen, dann hat sich das Thema durch die Energiewende sowieso erledigt“, glaubt die Kohlegegnerin Antje Kirchner. Bis dahin will sie mit den Protesten „weitermachen, einfach weitermachen“.

Mitarbeit Grafik / Programmierung: Anna van Hove, Chris Kurt und Dawood Ohdah

Quelle:http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/braunkohle-boom-in-der-lausitz-warum-die-billig-energie-riskant-ist-a-970690.html

Schreibe einen Kommentar