Expertenkommission veröffentlicht Bericht zu Störfällen im Reaktor Jülich
Die Kühltürme und Teile des Maschinenhauses sind schon abgebaut, der AVR selbst aber ist noch da, unmittelbar neben dem Forschungszentrum Jülich, und sieht gar nicht aus wie ein Atomkraftwerk, eher wie eine Mischung aus Getreidesilo und nicht mehr genutztem Raumfahrtbahnhof. Der AVR – das Kürzel steht für den langjährigen Betreiber, die 1959 von 15 kommunalen Energieversorgungsunternehmen gegründete »Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor« – ist ein Hochtemperaturreaktor (HTR). Er wurde von 1967 bis Ende 1988 betrieben und produzierte dabei 1,67 Terawattstunden elektrische Energie. Ab 2008 gab es Hinweise auf Unregelmäßigkeiten während der Betriebsphase und insbesondere auf einen schweren Störfall an Pfingsten des Jahres 1978. Dieser habe, so sehen es zumindest die Grünen in Person ihres Energiepolitikexperten im Bundestag Oliver Krischer, die Bundesrepublik sogar an den Rand eines »Super-GAU mit Tschernobyl-Folgen« gebracht.
Belegt sieht Krischer seine These durch den kürzlich veröffentlichten Bericht einer unabhängigen Expertengruppe, den die Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor und das Forschungszentrum Jülich (FZJ) nach dem Atomunglück von Fukushima in Auftrag gegeben hatten, um die Geschichte des Reaktors aufzuarbeiten. Die Autoren: Christian Küppers vom Öko-Institut in Darmstadt, der frühere Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit Lothar Hahn, der ehemalige Leiter des Instituts für Reaktorsicherheit am Forschungszentrum Karlsruhe, Volker Heinzel, und der vor kurzem gestorbene Fachbereichsleiter »Sicherheit in der Kerntechnik« des Bundesamtes für Strahlenschutz, Leopold Weil. Die beiden Erstgenannten gelten als Kernkraftkritiker, Heinzel und Weil eher als Atombefürworter.
Das Quartett bestätigt einen »Dampferzeugerstörfall« für Pfingsten 1978. Damals seien rund 27 Kubikmeter Wasser in den Primärkreis des Reaktors gelangt – ein Zustand, so die Autoren, der bei einem Hochtemperaturreaktor zu gefährlichsten Störungen führen könne. Bei Überschreitung eines bestimmten Feuchtewertes habe sich der Reaktor von selbst abschalten sollen, dies sei aber nicht geschehen. »Der Meßbereich wurde noch weiter verstellt, um eine Schnellabschaltung zu vermeiden«, heißt es. Im Klartext: Es wurde kräftig manipuliert.
Erst als etliche Versuche fehlschlugen, den Reaktor bei laufendem Betrieb zu trocknen, wurde er nach sechs Tagen abgefahren. Dadurch habe der Betreiber die Gefahr neuer Wasserzutritte in Kauf genommen, so der Report. Zudem sei das Ereignis lediglich in der niedrigsten Meldekategorie (»N« für »geringe sicherheitstechnische Bedeutung«) an die Aufsichtsbehörden gemeldet worden. Auch wenn man wegen der Wassermengen von einem GAU noch weit entfernt gewesen sei, ist die Einstufung in die harmloseste Störfallkategorie den Experten zufolge doch »definitiv zu niedrig ausgefallen«.
Insgesamt seien aus Jülich bis zum Betriebsende 1988 ohnehin nur 48 Ereignisse gemeldet worden, wundern sich die Autoren, »deutlich weniger als bei anderen deutschen Kernkraftwerken«. Bei Stichproben in den vorgelegten Dokumenten fanden sie Hinweise auf andere – nicht gemeldete – Ereignisse: ein Säureeinbruch 1971, eine unbeabsichtigte Kettenreaktion 1977, ein Gebläse-Schaden 1978, wiederholte Störungen an der Beschickungsanlage für den aus rund 100000 Brennstoffkugeln bestehenden Reaktorkern.
Und die Verfasser konstatieren weitere Mängel. So habe der AVR innerhalb des Primärkreislaufs, in dem die Wärme von den Brennelementen zu den Dampferzeugern transportiert wird, »zeitweise« zu hohe Temperaturen aufgewiesen. Eine alleinige Ursache dafür sei im nachhinein nicht mehr auszumachen, es kämen Bypässe im Kühlsystem, Fehler bei der Beschickung des Kerns mit Brennelementen sowie Unsicherheiten bei der Modellierung des Fließverhaltens der Kugeln in Frage.
Auch wurde der Reaktor zeitweise mit acht verschiedenen Arten von Brennelementtypen betrieben und viel stärker »beheizt«, als es die Berechnungen erlaubten. Infolge der hohen Temperaturen sowie zu langer Einsatzzeiten der Brennelemente unterschiedlichen Typs wurden dem Bericht zufolge größere Mengen Radioaktivität freigesetzt, es kam zu einer »lokalen, aber hohen Strontium-90-Kontamination des Bodens«.